Blogger, Zeitungsphilister und das Problem der Unzucht sowie Tanzlustbarkeit

Das um sich greifende Blogger-Bashing von FAZ und Co. hat den Autor Marc Reichwein motiviert, ein herrliches Stück über die Empörungsspirale im 19. Jahrhundert zu schreiben. Auch damals gab es Verdächtige, die im öffentlichen Diskurs im Fadenkreuz der Publizistik standen: Zeitungsleser! Das sind ähnliche Dunkelmänner, wie „die Leute mit den Laptops“ (Jauer, FAZ), die in Kaffeehäusern herumsitzen und angeblich nicht wissen, wie sie ihre Tagesrationen an Latte Macchiato finanzieren können. Blogger werden heute ähnlich inspiziert, wie die „liberalen Zeitungsphilister: „Bevor derselbe Morgens seine Zeitung gelesen hat, ist er nur ein halber Mensch; über dem Lesen aber geht ihm ein Licht nach dem andern auf, so daß er abends beim Schoppen über alle Tagesfragen mit zu Gericht sitzen kann und nicht begreift, wie es möglich ist, anderer Meinung zu sein.“

„Willkommen in den Jahren nach 1848, die liberale Revolution ist noch so jung wie die digitale heute. Pressefreiheit schien zwar einerseits schon legal und irgendwie fortschrittlich, andererseits aber auch ähnlich unbequem wie die Bloggerfreiheit heute. Und mindestens so verdächtig wie stundenlanges WLAN im St. Oberholz muss man sich die ausufernde Zeitungslektüre vorstellen“, schreibt Reichwein und er zitiert: „Eine Art von Hochschulen für das Zeitungsphilistertum sind die Casino-Lesezimmer. In feierlichster Stille, die Denkerstirne bald auf den einen bald auf den anderen Ellenbogen gestützt, sitzen sie hier und machen den Eindruck, als ob auf ihnen zunächst der schwere Beruf lastete, die Welt in ihren Fugen zu halten.“ Diese Zeilen stammen aus der Feder des Ultramontanisten August Reichensperger, den man bis heute als Außendeko des Kölner Doms besichtigen kann.

„Er hat ein so genanntes ‚Rath- und Hülfsbüchlein für Zeitungsleser‘ geschrieben, das in den 1860ern und ’70ern in rasch aufeinanderfolgenden Auflagen verlegt wird. Das Werk mit dem Titel ‚Phrasen und Schlagwörter‘ kommt als getarnte Handreichung für Zeitungsleser daher, ist in Wahrheit aber eine Art Kulturkampf gegen die liberale Presse mit sprachkritischen Mitteln. Polemisch vorgeführt wird, von welch miesen Journalisten-Tricks sich der empfängliche, leider allzu empfängliche Zeitungsphilister immer wieder beeindrucken lässt“, führt Reichwein weiter aus.

Was der Zeitungsphilister gestern gelesen habe, moniert der konservative Moralprediger Reichensperger, weiß er ohnehin meist heute schon nicht mehr (klingt ein wenig nach „das Internet überfordert mein Hirn“-Lamento von Frankieboy Schirrmacher); er glaubt aber jedes Mal, wenn seine Zeitungsstunde vorüber ist, wunders, was er gelernt habe, wenn nicht gar gethan habe. Am Ende, so Reichensperger, setze sich der Zeitungsfan noch „in den Kopf, er habe ein gutes Theil an allen Erfindungen der Neuzeit, von der Dampfmaschine an bis zum atlantischen Telegraphenkabel, und sieht mit stolzem Hochgefühle auf alle seine Nebenmenschen herab, welche solchen Anspruch nicht erheben zu können glauben.“ Bei zvab.com habe ich mir dieses Opus direkt bestellt. Und bei den bibliografischen Angaben zur zweiten Auflage von „Phrasen und Schlagwörter“ ist folgendes zu lesen.

Angebunden: Schmitz, J. R., De Moralität der Bekanntschaften beleuchtet an dem Charakter der Ehe. Auch: Inwiefern Bekanntschaften für eine nächste Gelegenheit (occasio proxima) zur Unzucht anzusehen sind. Als Zugabe: Dieselbe Frage in Betreff der heutigen Tanzlustbarkeiten. 2 Vorträge. Köln, Schwann, 1864. Das müsste doch ein treffliches Vademekum für FAZ-Redakteure sein. Wenn Schirrmacher einen ordentlichen Preis bietet, verkaufe ich ihm das Büchlein 😉