Erinnerungen eines altgedienten Jazzkommunisten

silhouette of a man playing saxophone during sunset
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Egal, wer beim Medienjournalisten Reginald Rudorf anrief: Die Jazzmaschine raste im Hintergrund. Immer volle Fahrt und größte Lautstärke. Es war sein Lebensgefühl. Also schob Rudorf die silbernen Scheiben in den Schacht, daß es nur so sauste und säuselte. Gezählt habe er die Zahl seiner CDs nie. Zehntausend? Bei den alten Schellackscheiben wußtest Du das ganz genau. 100 waren da viel. „Heute, anno 2001, zählst du nicht mehr mit. Und immer wieder Fragen. Kommt der Jazz wieder? Du hörst doch den ganzen Tag Hot? Der Jazz kann nicht wiederkommen, da er im Grunde nie weg war. Um ihn herum haben sich neue Musikformen entwickelt, meistens vom Jazz wie bei Rock‘n Roll, Beat oder auch moderner Rock angestoßen und geprägt“, erläuterte Rudorf.

Arte brachte eine Woche lang ein Hotprogramm dem Jazz zu Ehren. Im Internet blühten Jazz-Webs auf. Dr. Seiffert, der ehemalige Chef der Frankfurter Börse, machte alle Monate freitags (Thank God, it‘s Friday) einen Edeljazztreff direkt in der Börse. Freitagabend, wenn die Kurse kalt werden, heizte den Jobbern den Hot mit Maynard Ferguson ein. Am 6. April 2001 standen in der Börse Paulchen Kuhn und Benny Bailey, der legendäre Trompeter.

„Ich war richtig erschrocken, dass der noch lebte – 1925 geboren. Mein Gott, der blies schon bei Lionel Hampton, bei Dizzy Gillespie. Genau hier kommt das Wort von der Legende auf – der Mann ist Legende. Ist der Jazz auch schon Legende? Werden diese Legenden nun subventioniert wie die Oper?“, fragt sich Rudorf.

1946. Leipzig: „Die absoluten Hochwasserhosen mit dem Riesenkaro waren für uns Swingheinis der ultimativ letzte Kick der ersten Nachkriegs-Saison. Das Sakko ging bis zum Knie, mantelmäßig. Dazu selbstgenähte Stoffschuhe mit Korksohle und Lederflicken, ein knielanger, greller, saudünn gewickelter Schlips und obendrauf eine Art aufgeblähter Borsalino – meine Eltern flüchteten auf die andere Straßenseite, wenn sie mich nur sahen. Die sowjetischen Offiziere griffen erstmal ans Pistolenhalfter. Die Vopos machten sich Notizen. Die Mädchen himmelten uns an. Und wir hatten nur Swing im Sinn. Benny Goodman. Den kannten wir aus BBC, obwohl BBC meistens Nat Gonella spielte. Aber The Voice of America. Da gab es Goodman und Satchmo, Glenn Miller und Lionel Hamptons Hot-Schrei Hey Ba Ba Rebop. Und dann kam der AFN aus Frankfurt am Main – das war für uns frischgebackenen Jung-Kommunisten der geliebte Feindsender Numero 1. Ein Jahr vorher hatten wir noch die HJ-Uniform mit dem Hakenkreuz an. Und wer da mit Hey Ba Ba Rebop herumhottete, wurde zum K 5 auf die Leipziger Wächterstraße geschleppt. Jazzfans waren Volksfeinde. Daran denke ich natürlich keine Sekunde mehr, wenn ich heute die Soundmaschine ankurbele. Aber beim Schreiben kommt die Erinnerung. Der Illustrierte Beobachter brachte im Heft 26 während des Kriegsjahres 1944 auf dem Titel ein Foto von Benny Goodman, der seine Klarinette umklammert hielt. Dazu setzte die NS-Postille die Schlagzeile Verbrecherhände. Die Gestapo nahm mich 1942 fest und verhörte mich stundenlang in der Leipziger Auenstraße, ihrem Hauptquartier, warum ich, ein arischer Junge, den verniggerten Judenjazz hörte. Dann war zwischen 1945 und 1947 in Leipzig wieder alles erlaubt. Auch Jazz. In Leipzigs Vergnügungshallen vom Zoo bis zum Felsenkeller donnerten die Swingbands aus allen Rohren – Kurt Henkels allen voran. Allerdings nur kurze Zeit. Die Sowjets und ihre deutschen KP-Hiwis waren zunächst voll damit beschäftigt, die Kommandohöhen von Verwaltung und Wirtschaft in ihre Hände zu bekommen. Kultur hatte deswegen zunächst noch Narrenfreiheit. Aber dann merkte die SED, daß Kids, die auf Jazz geeicht waren, der Partei verloren gingen. Und schon war der Hotjazz verfemt wie bei Hitler. Die Stasi nahm mich fest. Warum ich die imperialistische Musik höre, diesen Hot imperialistischer Wallstreet-Gangster. Amerika haßten die Nazis und die Kommunisten gleichermaßen. Amerika war ihr Hauptfeind. Und für uns die Eröffnung der Welt, die ja unter Hitler und Ulbricht geschlossen war. Es gibt auch ganz andere Jazzfreaks. Die jedes Datum wissen. Warum Satchmo am 2. März 1929 den sechsten Ton von links nur halb anblies. Wir nannten diese Krämerseelen Jazzbuchhalter. Das war ebenfalls ein Merkmal echter Jazzfreude: Nämlich die stilistische Jazzfront breit zu nehmen – und nicht durch sogenannte stilistische Authentizitäts-Zäune einzusperren. Bei Theo Mackeben oder dem unvergeßlichen Stück ‚Die kleine Stadt will schlafen gehen’. Alle Schlager, die Manfred Krug jüngst (und auch früher in DDR-Zeiten) auf einem hinreißenden Silberling (Foto) verewigt hat, tragen unüberhörbar das Idiom des Jazz. Jazzer spürten sofort, ob sie einem swingenden Unterhaltungs-Mann gegenüber- standen, der den relaxten Dreh des Jazz beherrscht oder einem Zickendraht, der statt der Kunst des Taktverschleppens stur auf Humptata programmiert war“, weiß Rudorf.

Er ist 1959 aus der DDR geflohen. Seine 1000 Jazzplatten blieben drüben – bei einem Pfarrer. Im Westen brauchte Rudorf zunächst keine heißen Scheiben. Erstens hatte er kein Geld. Zweitens konnte der Journalist ins Domicile du Jazz in Frankfurt pilgern – da gab es das live, was Rudorf sonst nur als Konserve kannte. In Mainhattan lernte er den Duke kennen.

„Ich interviewte Ellington – mein Gott, einen meiner Götter. Und der war an dem Abend denkbar schlecht gelaunt. Ich fragte ihn, warum er denn nicht mal eine Tournee durch die Sowjetunion mache. Das wies er kalt ab. Auch meinen Hinweis, daß er doch damit für die Menschen eine Botschaft bringe, zog nicht. Das Thema war aus irgendeinem Grund tabu für ihn. Fritz Rau, sein Manager, sagte mir, der Duke will in keine Diktatur reisen. Er will das einfach nicht. Vielleicht befürchtete er, daß eine solche Reise von den Kommunisten als PR genutzt würde: Seht, selbst der Duke kommt zu uns. Satchmo lernte ich kennen. Sinatra bei seinem einzigen Konzert in der Frankfurter Jahrhunderthalle. 300 DM Eintritt. Der Mann war die geborene Lässigkeit – auch das ein Symptom des American Way of Life. Lässig wie Frankie Boy, relaxed wie Glenn Miller. Jazz hörte ich im Westen zunächst weniger von Platten. AFN brachte viel Jazz. Das genügte. Dann schrieb ich mit Carlo Bohländer Reclams Jazzführer. Ein paar hundert Seiten Daten, Bios. Um es kurz zu machen. 1989. Die DDR implodierte. Und in mir explodierte der Jazz. Ich sah Leipzig wieder. Jede Straße, jedes Haus Jazz. Die Erinnerung an den Jazz kam wie automatisch abgerufen wieder. Leipzig war meine Jugend. Und meine Jugend war Jazz. In Leipzig war alles Jazz. Wenn ich an Herbert Gebbing und Jules Becke denke. Wir haben hier immer Jazz gehört, ihm gefrönt, auch wenn draußen die braunen und die roten Häscher große Ohren machten. Und mich suchte wie ein Virus eine Sammlerwut heim – jede Woche war ich einmal in Mainhattan am Roßmarkt, um im besten Jazzladen alles zu kaufen, was Hotgeschichte gemacht hat.“

Drei Tipps, die Rudorf mir unterbreitete:

„1. Jazz Anthology 1940 – zwei CDs auf Auvidis 151832. Auf den beiden Silberstücken der Kassette sind Jazz-Legenden der 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts von Charlie Barnet über Rex Stewart, Fats Waller zu Benny Goodman auf das Vitalste konserviert. Aus den digitalisierten Speichern dieses Sil- berlings steigen 30 Titel mit allem, was damals den Jazz prägte – Spontaneität, Einfallsreichtum, Vitalität.

2. Quincy Jones Jook Joint auf 2west records 9362 458 75-2 – eines der erstaunlichsten Jazzdokumente, Mitte der 90er entstanden, produziert von dem hollywoodesken Arrangements- und Produktionsgenie von Quincy Jones – mit dabei alles, was in den 90ern ohne Abzug noch als absolutes Jazz-Vollblut pulsierte: Ray Charles, Stevie Wonder, Herbie Hancock, Brandy, James Moody, Phil Colins, Aaron Hall, Barry White. Dazu ein phantastisches Inlet – übrigens eine CD, die auch die kreativen Kontakte zum Papperla-Pop auslotet.

3. Die Spiegel-Jazz-Edition mit zehn CDs bei BMG – eigentlich unverzichtbar. Es gibt sehr viele Sammler-Editionen in Frankreich und vor allen anderen die schwedische Phontastik-Edition, die ich mit ihren 20 Silberlingen die Jazzgeschichte am komplettesten festgehalten hat.“

Und noch ein Tip: Alles was bei der deutschen Firma ZYX mit Jazz neuerdings wieder verlegt wird, ist phantastisch. Überall, wo ZYX mit Jazz draufsteht, ist auch Jazz drin – etwa in the jazz bar Peterson, Basie, Milt Jackson, Benny Carter. „Ich habe dabei nie das Gefühl einer Reise rückwärts in nostalgisch wiederbelebte Vergangenheit. Sentiments sind keine Dimension des Jazz“, resümierte der alte Haudegen, der 2008 verstarb.

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