Bekenntnisse eines bibliophilen Vollchaoten

Der 1980 nach einem Autounfall gestorbene französische Intellektuelle Roland Barthes liebte das Fragmentarische, die Distanz und den Wechsel der Perspektiven. Fragmente sind unfertig, verzichten auf Geschlossenheit, stehen nicht unter dem Verdacht der Anmaßung, lassen Raum für Spekulationen, eröffnen neue Gedanken und spielen mit der Kombinatorik von Dingen, die man beim ersten Hinsehen nicht für möglich gehalten hat.

Barthes war nicht nur Wissenschaftler, Linguist, Strukturalist, Semiologe (Spezialist für die Erforschung von Zeichen), Mythenjäger, Autor von intellektuellen Spiel- und Kultbüchern wie „Am Nullpunkt der Literatur“, „Mythen des Alltags“, „Die Lust am Text“, „Sade Fourier Loyola“ oder „Fragmente einer Sprache der Liebe“. Er hat auch eine besondere Form der Lektüre und des Schreibens praktiziert. Sein publizistisches Schaffen war nicht darauf aus, ein komplexes und unumstößliches Gedankengebäude zu erreichen – im Gegensatz zu Jean-Paul Sartre. 

Die Notizbücher von Barthes sind offen für alles, für Theorien und Phantasmen und Erzählungen und Materialien und Abschweifungen. Die Zusammenhanglosigkeit zog er der Ordnung vor und konzentrierte sich auf das „Rauschen der Sprache“. Bücher zusammengesetzt aus kurzen, eruptiven Zwischen-Texten, Apercus. Es zeigt sein eigenes Leben als Stückwerk, als Sammelsurium von einigem Notwendigen und viel Zufälligem. Sein Opus „Le plaisir du texte“ (Die Lust am Text) bestand nicht aus Teilen oder Kapiteln, „sondern aus vielen Fragmenten“, schreibt Hanns-Josef Orthel in seinem Buch „Die Pariser Abende des Roland Barthes“: „Jedes dieser Fragmente bildete eine Art Denkzusammenhang im Kleinen, so dass man lesend durch eine Galerie zu gehen glaubte, sich mal diesem, mal jenem Bild zuwendend. Statt des gewohnten Lesens von Seite zu Seite war so ein Lesen in Sprüngen, vorwärts, zurück, ganz nach Belieben, möglich. Der Leser setzte den Gesamttext für sich zusammen, und jeder Leser mochte das auf andere Art tun.“

Er beweist sich als frei schweifender, nicht an die gängigen Formen der akademischen Studien gebundener Denker, so Orthel im Nachwort des Barthes-Werkes „Begebenheiten – Incidents“.

Gleichzeitig liebte Roland Barthes die Rituale des Alltags und bezeichnete sich selbst als Gewohnheitsmenschen. An einem 16. Juli notiert er: „Die morgendliche Runde (zum Lebensmittelhändler, Bäcker, während das Dorf noch fast menschenleer ist) würde um nichts in der Welt auslassen.“ 

Er schuf sich in Paris und in den Sommermonaten in Urt feste Abläufe. Mit dem Tagesanbruch macht er sich auf, Besorgungen in der Ortschaft zu machen. Er kauft den Sud-Quest, die regionale Tageszeitung. Oft geht er hinter das Geschäft, wo sich der Ofen befindet, um mit dem Bäcker, der gleichzeitig auch Bürgermeister ist, über Politik zu diskutieren. Oder er schwatzt mit der Tochter des Hauses, einer Frau, deren Aufgewecktheit er schätzt. Sie leitet das Geschäft ihrer Eltern. Wenn man ihr gegenüber den Meister erwähnt, sagt sie einfach nur: „Das war ein feiner Herr.“ Zu Weihnachten hat er ihr immer ein kleines Geschenk gemacht. In Paris favorisierte Barthes seinen „Kiez“ an der Rue Servandoni und hasste Massenansammlungen. 

Seine Arbeitsweise folgte immer dem gleichen Muster. Er arbeitete mit Karteikarten, auf denen vor allem Exzerpte aus Büchern festgehalten wurden. Später waren es immer mehr auch eigene Gedanken. Meist datiert und nummeriert, werden diese Karten oder Zettel zu verschiebbaren und in den unterschiedlichsten Formen kombinierbaren Gliedern von Texten. Es sind kurze Beobachtungen und Einfälle, die in der Form des Notats festgehalten und dann einem offenen Stichwort-Speicher übergeben werden. Er wird mit immer neuen Stichworten und Stichwort-Listen erweitert und erhält die Funktion von Fragen, Verweisen und Themen. Seine Arbeitsweise ist vergleichbar mit dem legendären Zettelkasten des Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann. Sein Zettelkasten ist ebenfalls ein System für überraschende Erkenntnisse und für die Berücksichtigung des Zufalls bei der Lektüre. 

Es gibt Themenblöcke im Luhmannschen Archiv etwa zum Begriff des Amtes, zu Wirtschaft, zu Hochkulturen oder zur Entscheidungstheorie. Diese anfängliche Ordnung wird immer wieder verlassen. Notierte Nebengedanken zu diesen großen Linien werden einfach an der Stelle eingeschoben, an der der Zettelkasten geöffnet war. Das führt zur Steigerung des Überraschungsgehaltes beim erneuten Zugriff auf den Kasten. Durch die Anwendung dieses “Multiple-Storage-Prinzips” – also die Mehrfach-Ablage – durchbricht Luhmann auch eine historische Ordnung nach der Machart “Das waren meine ersten Gedanken zu xyz”. Der Kasten versucht die Vorteile von Ordnung mit den Vorteilen der Unordnung zu kombinieren. Damit bewegt sich Luhmann auf der von Horace Walpole benannten Gabe der Serendipität, also der Fähigkeit, etwas zu finden, was man gar nicht gesucht hat. 

Ich bin vor ein paar Jahren in einem Autorenwettbewerb folgenden Fragen nachgegangen: „Wo lebst du? Was erlebst du dort? Was machst du eigentlich den ganzen Tag? Und: wie fühlt sich das an?“ 

Am Bespiel der Recherche für diesen Text fällt die Antwort leicht. Die Alltagsrituale von Barthes und Luhmann beschreiben die Methodik meiner täglichen Arbeit. Es geht um die subtile Jagd nach Sätzen. Es geht um „Bücherhaufen für neue Ideen“ in Verbindung mit digitaler Suche. Meine Umgebung ist ein Depot für Zufallsfunde. Um so mehr, wenn man kein Freund von Ordnungssystemen ist.

In meinem Fall ist das noch eine vornehme Formulierung. Ich bin ein bibliophiler Vollchaot, der nur erahnen kann, wo sich ein Werk befindet. Mal da, mal hier, mal im Keller, mal am Schreibtisch, mal in der Bibliothek, mal in irgendwelchen Bücherstapeln in der Küche oder am Bett. 

Meine Frau merkte sofort, wenn ich auf subtiler Jagd bin. Mit manischem Blick stapfe ich die Treppen hoch und runter. Folgt auf die Frage meiner Liebsten, was ich denn suchen würde, nur die knappe Antwort „ein Buch”, ließ sie mich in Ruhe. Weitere Erklärungen über Autor, Titel, Verlag oder Erscheinungsjahr des begehrten Objektes wären sinnlos, da ich ja der Übeltäter bin, der das Opus nach irgendeinem Gesichtspunkt irgendwo hingestellt hat.

Auf der Suche nach der verschwundenen Literatur stoße ich dann meistens auf ganz andere Kostbarkeiten, die seit Jahren verschollen waren. Hier im Blog und anderswo berichte ich ab und zu etwas über meine Fundstücke und über die Ergebnisse des kursorischen Lesens. Digitale und analoge Recherchen verbinden sich bei mir zu einem Ideen-Gewimmel, wie es der Dichter Jean Paul ausdrückte. Ein Ritual, das sich täglich wiederholt, aber immer mit einem überraschenden Ergebnis. Oder auch nicht.

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