
Immer wieder gibt es reflexhafte Debatten, wenn es um die Möglichkeiten der Produktion im eigenen Land geht. Also Made in Germany oder USA first. Siehe beispielsweise die Kommentare auf LinkedIn als Reaktion auf die neue Ausgabe des Sohn@Sohn-Newsletters:
Wegen angespannter Lieferketten, Energiekrisen und Rohstoffabhängigkeiten wird ja auch von der Rückverlagerung von Produktion und einer Revitalisierung der Rohstoffgewinnung im eigenen Land geträumt gesprochen: Nennen wir es Re-Industrialisierung. Wie realistisch ist dieser Ansatz? Stichwort Fertigungstiefe, globale Spezialisierung und Arbeitsteilung, Kostenvorteile, Außenhandel, Wirtschaftsverflechtungen, Facharbeitskräfte in Asien, Absatzmärkte in China und Co., Direktinvestitionen in anderen Ländern. Würden wir das alles zurückdrehen, wäre im Vergleich die Bankenkrise 2008/2009 nur ein laues Lüftchen.
Auch ein Blick in die Wirtschaftsstatistik könnte helfen. Etwa in das Fachbuch von Werner Abelshauser “Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945″:
Weder die wirtschaftlichen Eliten noch die öffentliche Meinung waren und sind sich der Realität bewusst, “dass schon Anfang der sechziger Jahre selbst bei stark rohstofforientierten Produzenten, wie der deutschen Großchemie, bis zu zwei Drittel der Wertschöpfung auf der Fähigkeit zur Anwendung von wissenschaftlich basierter Stoffumwandlungsprozesse beruhte”, schreibt Abelshauser in der erweiterten Auflage seines Opus.
Seit den neunziger Jahren sind mehr als 75 Prozent der Erwerbstätigen und ein ebenso hoher Prozentsatz der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung durch immaterielle und nachindustrielle Produktion entstanden. Die innere Uhr der politischen Entscheider ist immer noch auf die industrielle Produktion gepolt. Man merkt es an der wenig ambitionierten Digitalen Agenda der Bundesregierung, man erkennt es an den lausigen Akzenten, die in der Bildungspolitik gesetzt werden und man hört es bei den Sonntagsreden der Politiker, wenn es um Firmenansiedlungen geht. Es gibt keine Konzeption für eine vernetzte Ökonomie jenseits der industriellen Massenfertigung aus den Zeiten des Fordismus. Das stellt nicht die Höchstleistungen der Maschinenbauer in Frage. Aber selbst die können ohne die internationalen Verflechtungen überhaupt nicht existieren. Wir sollten uns endlich als Wissensökonomie verstehen mit einem guten industriellen Kern von Hidden Champions. Alles, was diese Wissensökonomie schädigt, sollten wir abstellen. Beispielsweise die unsinnigen Verbots-Gedankenspiele des Bundesdatenschutzbeauftragten. Der Bonner Ulrich Kelber kann mal nachschlagen in einer wissenschaftlichen Abhandlung des Ökonomen Joseph A. Schumpeter, die er in seiner Zeit an der Uni in Bonn geschrieben hat. Erschienen 1928 unter dem Titel „Die Tendenzen unserer sozialen Struktur“. Hier untersucht Schumpeter die Diskrepanz zwischen der Wirtschaftsordnung Deutschlands und der Sozialstruktur. Die Wirtschaftsorganisation war kapitalistisch, die deutsche Gesellschaft war aber in ihren Gebräuchen und Gewohnheiten nach wie vor in ländlichen, ja sogar feudalen Denkweisen gefangen – heute industriekapitalistisch.
Zur Reichsgründung 1871 haben nahezu zwei Drittel der Bevölkerung auf Gütern oder Gemeinden mit weniger als 2000 Einwohnern gelebt, noch nicht einmal 5 Prozent in Großstädten von mehr als 100.000 Einwohnern. Bis 1925 hatte sich der Anteil der Stadtbewohner verfünffacht, während der Anteil der Landbevölkerung um die Hälfte zurückgegangen ist. Ursache war vor allem ein sprunghafter Anstieg der Agrarproduktivität. Während 1882 in Deutschland nur 4 Prozent der kleinen Landwirtschaftsbetriebe Maschinen einsetzten, waren es 1925 schon über 66 Prozent. Die Mechanisierung löste eine Landflucht aus und trieb die Landarbeiter in die Städte. Landjunker, barfüssige Propheten, Zurück-zur-Scholle-Ideologen dominierten die Berliner Politik. Jetzt träumen wir von einer Re-Industrialisierung, die uns als Volkswirtschaft massiv zurückwerfen würde.