Der Leitfaden meines Tuns dürfte bekannt sein: Antihierarchie, Infragestellen der Autorität, Offenheit, fröhliche Anarchie und die Verspottung aller Dogmen im Geiste des sinnfrohen Renaissance-Dichters François Rabelais.
Das Freidenkertum des spöttischen Autors ist heute wichtiger denn je – gepaart mit einer Prise Gelassenheit und einer gehörigen Portion Selbstkritik. Jeder besserwisserische Moralist wandelt auf einem schmalen Grad, der am Ende zum totalitären Tugendwächter-Regime führen kann. Wer seine eigenen Maximen und Meinungen zum allgemein gültigen Maßstab erhebt, wirkt anmaßend als Diskurs-Tyrann und Nasenring-Dompteur.
Man spielt Polizei, Geheimdienst, Sittenwächter, Zensor, Staatsanwalt, Richter und Henker in Personalunion. Initiiert werden dabei mittelalterliche Prangermethoden zur Verbannung von vermeintlichen Querulanten. Geheimdienst-Denunziatoren, Big Data-Analysten, Gaming-Anbieter, Netz-Giganten, Betreiber von Social Networks und semantische Hausmeister mutieren dabei zum Staat im Staate unter Missachtung rechtsstaatlicher Regeln. Sie instrumentalisieren Allgemeine Geschäftsbedingungen für Sanktionen, schließen Nutzer willkürlich aus, löschen Inhalte oder erteilen nach Belieben Ermahnungen, gegen die sich keiner so richtig wehren kann. Wer andere in die Isolation treibt, zur persona non grata stempelt, denunziert, im Social Web blockiert oder mit Stereotypen irgendwelchen Verdächtigungen aussetzt, strebt selbst das Amt des unanfechtbaren Hohepriesters an.
Die Wirkungskette ist in der Demoskopie gut erforscht: Die siegessichere Fraktion ist redebereit, die Verlierer tendieren zum Schweigen. Der Prozess schaukelt sich auf. Wer zum moralisch überlegenen Lager zählt, zeigt eine stärkere Bekenntnisbereitschaft und beeinflusst dadurch andere, sich den stärkeren Bataillonen anzuschließen. Diesen Effekt der öffentlichen und nunmehr netzöffentlichen Meinung erkannten schon Rousseau und Locke: Der Einzelnen kann auch gegen seinen Willen zu einem bestimmten Verhalten bewegt werden. Jede Schweigespirale besteht also auch aus einer Bekenntnisspirale. Niemand möchte zu den Verlierern zählen, jeder hat eine soziale Haut, die auf Zustimmung und Anerkennung wert legt.
Konformitätsdruck ist also kein Phänomen der sozialen Medien, es ist aber wesentlich einfacher geworden, diese Mechanismen zur Erlangung der Meinungshoheit zu instrumentalisieren, wie Martin Weigert schreibt.
Die Folgen dieser teuflischen Wirkungskette können existenzbedrohend sein: Was macht aber ein professioneller Computerspieler, der von der Gaming-Community unter Duldung des Betreibers lebenslänglich von der Plattform verbannt wird, weil er als unhöfliche Nervensäge einigen Konkurrenten auf den Keks gegangen ist? Der Betroffene kann sich nicht wehren, es gibt keine Schiedsgerichte, Mediatoren oder juristisch saubere Verfahren. Am Ende wirkt der Bannspruch wie ein Berufsverbot. Eine andere nicht weniger perfide Methode nennt sich “Spamblocken”, um Vertreter missliebiger Meinungen komplett abzuschiessen.
“Findet sich nur ein ausreichend grosser Mob, der bei Twitter meldet, der Account würde Spam verbreiten, wird dieser von Twitter automatisch suspendiert.”
Eine unheilige Allianz von Empörungsgeistern und AGB-Diktatoren des Silicon Valley.
Es sind Schand- und Ehrenstrafen, die die Reputation vernichten. Ab dem 12. Jahrhundert eine beliebte Methode der Herrschenden, um die Fassade der „ehrbaren“ Bürger zu wahren. Wenn der Delinquent nicht geköpft, erhängt oder gevierteilt wurde, sollte er zumindest der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Die bigotte Community vertreibt den Außenseiter auf Lebenszeit. Welche Rezeptur könnten man diesem Neo-Jakobinertum entgegen setzen? Das möchte ich in meiner nächsten Kolumne für “The European” gerne vertiefen. Habt Ihr Ideen?