
Vor rund 20 Jahren hatte ich mal einen intensiven Kontakt zum Autor Franz Rottensteiner. Mit ihm organisierte ich auf der Cebit eine Diskussionsrunde zur Science Fiction-Literatur. Mit dabei waren Prof. Dr. Herbert W. Franke, Physiker und Publizist; Dr. Karlheinz Steinmüller, Zukunftsforscher; Andreas Zamperoni, Tenovis. Rottensteiner war Herausgeber der phantastischen Bibliothek bei Suhrkamp und für die Zusammenstellung dieser Runde prädestiniert. Er gab gibt auch eine geniale Zeitschrift heraus mit dem Titel Quarber Merkur, die er mir nach dem Treffen in Hannover zuschickte. So tauschten wir uns intensiver über SF-Autoren aus. Und als Berliner konnte ich nicht Paul Scheerbart unerwähnt lassen. Ende des 19. Jahrhunderts zählte er zu den wenigen Künstlern, die sich auf die Suche nach dem Neuen aufmachten. In seinem ersten Buch “Das Paradies. Die Heimat der Kunst” ist das schon spürbar. Die Suche nach neuen Welten und Innovationen. Phantastik nannte Scheerbart sein künstlerisches Programm und gründete 1892 den “Verlag deutscher Phantasten”, in dem er, neben einem Bändchen mit eigenen Texten (leider nicht in meinem Besitz) Albert Girauds Gedichtzyklus “Pierrot Lunaire” herausbrachte. Ein verlegerisches Unterfangen mit geringer Halbwertzeit.

Letzteres Werk konnte ich bei einem gut sortierten Antiquariat in Bremen erwerben. Damals bin ich noch reichlich mit den Katalogen der besten Antiquariate in Deutschland, Österreich und Schweiz versorgt worden. Alleine diese Kataloge waren sammlungswürdig. In dieser Zeit war es übrigens üblich, Verlage und Zeitschriften zu gründen und wieder zu schließen. Ein Meister dieser Projekte war Franz Blei. Auch von ihm steht einiges in meiner Bibliothek (ich werde das auf ichsagmal.com ausführlich publizieren).
Jedenfalls kommunizierte ich häufiger mit Franz Rottensteiner und wir vereinbarten die Veröffentlichung von Autorenporträts – Scheerbart, Lovecraft, Lem.
Hier sein Text über Paul Scheerbart, ein kosmischer Phantast (die anderen werden demnächst folgen):
Von Franz Rottensteiner
Paul Scheerbart (1863-1915) wird unter den verschiedensten Etiketten diskutiert und vereinnahmt, als Vorläufer der Moderne, als Autor von Lautgedichten vor den Dadaisten, als Vorläufer des Surrealimus (1958 erschien in Paris eine Scheerbart gewidmete Ausgabe der Zeitschrift Bizarre mit einer Übersetzung des Perpetuum mobile [1910], die ihn in die Nähe von Alfred Jarry rückt), als Prophet und Vorkämpfer der Glasarchitektur mit Einfluss auf Architekturströmungen der Moderne (Bruno Taut z.B.); man hat ihn apostrophiert als „Antierotiker“ (nach Erich Mühsam er selbst), als „Dichter der Sternenwelt“ (Franz Servaes), als „weisen Clown“(O.J. Bierbaum), als wiedergeborenen Dionysus“ (Anselm Ruest), aber auch als „literarischen Eigenbrötler“ (Kurt Aram). Für Arno Schmidt wieder, der das Schreiben als harte Arbeit am Wort sah und nicht hielt von der leichten Eingabe der Muse und dem dichterischen Genius, dem alles ohne Anstrengung zufalle, ohne die Mühe des Korrigierens, war er nur ein „kosmischer Schwadroneur mit beschränkter Haftung“. Natürlich sind auch Scheerbarts Anklänge an die Science Fiction unübersehbar, und einige Kommentatoren haben aufgezählt, was er alles an technischen Neuerungen vorausgesehen haben soll, als fiele Scheerbart als Autor in dieselbe Rubrik wie Jules Verne. Als solcher qualifiziert ihn vor allem seine „Flugschrift“ Die Entwicklung des Luftmilitarismus und die Auflösung der europäischen Land-Heere, Festungen und Seeflotten (1909], in der er in anscheinend paradoxem Zynismus verkündete, der Krieg lasse sich nicht durch Pazifismus überwinden, sondern nur durch die größtmögliche Perfektionierung der Zerstörungsmittel, durch geballte Luftbombardements, vor denen alle Festungsanlagen und Flotten zunichte würden. Das rückt ihn jedoch eher in die Nähe Jonathan Swifts als die Jules Vernes. Scheerbart selbst hat sich als „Phantasten“ bezeichnet, gründete einen kurzlebigen „Verlag der Phantasten“, in dem sein „Wunderfabelbuch“ Ja… was möchten wir nicht Alles! (1893) und die 2. Auflage seines ersten Buches, Das Paradies, die Heimat der Kunst (1889, 1892) erschienen und schrieb früh eine „Ästhetik der Phantastik“ (1894). Schon in seinem ersten Essay dieser programmatischen Richtung, „Die Phantastik im Kunstgewerbe“ (1891) verstand er die Phantastik im Gegensatz zum künstlerischen Realismus als eine Kunstrichtung, die hauptsächlich durch die Phantasiekraft wirken will und zugleich die Phantasie des Zuschauers in neue Bahnen zu leiten versucht. „Das Wesen der Phantastik besteht somit in der Eröffnung neuer, weiter Perspektiven.“
Mit dem literaturwissenschaftlichen Phantastik-Begriff, wie er sich in den letzten Jahren im Gefolge von Roger Caillois und Tzvetan Todorovs einflussreicher Introduction à la littérature fantastique ausgebildet hat, hat Scheerbarts Auffassung nichts gemein. Seine kosmischen Welten, wenn auch wissenschaftsverneinend, märchenhaft und antiempirisch anmutend, haben nichts Übernatürliches an sich; sie entspringen zwar einem Missbehagen an der irdischen faktischen Welt mit ihren Kriegen, Elend, Existenznöten und Lebensqualen, aber sie werden für die wahre, kosmische Wirklichkeit ausgegeben, in der das irdische Jammertal nur ein nicht sonderlich bedeutsamer Unglücksfall einer höheren Welt kosmischer Harmonie, ästhetischer Ordnung und in ihrer Unfassbarkeit erhabener Größe ist. Aber es gibt den vielbeschworenen „Riss in der Wirklichkeit“ nicht, keinen Konflikt zweier Weltordnungen, einer diesseitigen und einer jenseitigen, keine Andeutung von Supernaturalismus.
Das wichtigste Sinnesorgan im Scheerbartschen Kosmos ist zweifellos das Auge; es ermöglicht seinen Kosmosbewohnern, immer neue Aussichten zu entdecken, die ständigen wunderbaren Metamorphosen, die sich im All vollziehen, zu verfolgen und stets neue ästhetische Eindrücke zu empfangen. Wie Gustav Theodor Fechner stellte er sich auch die Planeten und Sonnen als lebende, denkende Wesen vor. Die Natur kommt seinen skurril ausgesonnen Sternenbewohnern zu Hilfe, häufig sind sie mit überlegenen Sinnesorganen ausgestattet, etwa ausfahrbaren Teleskopaugen, die es ihnen ermöglichen, das Geschehen in der Sternenwelt, das der Autor in einem opulenten Kaleidoskop mannigfaltiger visueller Eindrücke schildert, genau zu verfolgen. Oder ihr Himmelskörper selbst stellt ihnen natürliche Linsen Beobachtung der astralen Welt zur Verfügung, wie in dem Mondroman Die große Revolution (1902). Scheerbarts irdische Schauplätze, vor allem der Orient (wie in Tarub, Bagdads berühmte Köchin [1897], Der Tod der Barmekiden [1897], Machtspäße, [1904]) oder das ferne Australien [Münchhausen und Clarissa [1906], wo die Künstler ebenfalls das Alte dekonstruieren wollen und nach dem Neuen streben, sind in ihrer Exotik nicht weniger bunte „Wunderweltlaternen“ als die astralen Gefilde.
In gewissem Maße ist der Scheerbart’sche Kosmos auch ein ideales Gegenstück zu seinen eigenen, von Hunger bedrohten bohemehaften Alltagsexistenz, in der er oft und oft mehr flüssige als feste Nahrung zu sich nahm. Häufig zitiert wird die von seinem Verleger Ernst Rowohlt gemachte Mitteilung, Scheerbart habe sich von „geschabten Heringen auf Brot“ ernährt. Ähnliche Anekdoten, die den Autor als absonderlichen, eigensinnigen Außenseiter hinstellen, als schrulligen Kauz und auf Pump lebenden trinkfreudigen Philosophen sind in vielen Darstellungen der Berliner Boheme zu finden. Es scheint, dass er nur dank der Unterstützung seiner immens geduldigen Zimmervermieterin und späteren Frau Anna, des „Bärchens“, die in seinen Briefen an sie, Von Zimmer zu Zimmer (1921) ein liebevolles Denkmal gefunden hat, lange genug am Leben blieb, um 1915 buchstäblich zu verhungern – aus Protest gegen den 1. Weltkrieg, wie man u.a. bei Erich Mühsam lesen kann.
Scheerbart wurde verhältnismäßig viel kritische Aufmerksamkeit zuteil, auch solche von großem Verständnis, aber gelesen wurde er kaum; nicht zu Lebzeiten, und nicht heute, und darin hat auch die inzwischen an Umfang und Qualität respektable Sekundärliteratur nichts geändert. Der Vergessenheit, in die er in den Jahrzehnten nach seinem Tod geriet, wurde er zwar entrissen, und seine alten Bücher sind inzwischen begehrte Sammlerstücke, aber seine Neuauflagen haben kaum einen größeren Leserkreis gefunden. „Seine Tragik ist, dass er viele Anhänger hat, aber kaum Leser“ (Klaus Völker). Die sechs Scheerbart-Bände in der „Phantastischen Bibliothek“ bei Suhrkamp waren so wenig ein Erfolg wie Einzelausgaben in den Insel Taschenbüchern, bei dtv oder anderswo, und die elf Bände der Gesammelten Werke in der kleinen „Edition Phantasia“ waren sündteuer und hatten eine Auflage von nur dreihundert Stück. Die schönen, von Mechthild Rausch mustergültig kommentierten Ausgaben bei der edition text + kritik (u.a. Gesammelte Arbeiten für das Theater, Der Tod der Barmekiden, Das graue Tuch und zehn Prozent Weiß) dürften keine wesentlich höheren Auflagen haben.
Dank der beiden mit liebevoller Akribie recherchierten Forschungsarbeiten Mechthild Rauschs, 70 Trillionen Weltgrüße. Eine Biographie in Briefen (1889-1915) [1991] und Von Danzig ins Weltall. Paul Scheerbarts Anfangsjahre 1863-1895 (1997) ist über Scheerbarts Leben nun einiges bekannt. Es liegen der Briefwechsel mit Max Bruns 1898-1904 und andere Dokumente (1990) und Paul Scheerbarts Briefwechsel mit Bruno Taut und anderen (1996) und seine Briefe von 1913-1914 an Gottfried Heinersdorff, Bruno Taut und Herwarth Walden (1996) vor und dank der so aufopferungsvollen wie verdienstvollen Arbeit Michael M. Schardts und seines Igel-Verlages drei Bände mit hundert Jahren Scheerbart-Rezeption Über Paul Scheerbart (1992, 1996 und 1998). Im Igel-Verlag erschien auch eine der wesentlichsten Dissertationen bisher zu Paul Scheerbart, Clemens Brunns Der Ausweg ins Unwirkliche. Fiktion und Weltmodell bei Paul Scheerbart und Alfred Kubin (2000), eine komparatistische Arbeit über Lesabéndio und Kubins Die andere Seite.
Der Asteroiden-Roman Lesabéndio (1913), die Originalausgabe wurde von Alfred Kubin illustriert, der das Werk vermutlich auch erst an den Georg Müller-Verlag vermittelt hat, ist wohl Scheerbarts reifster Roman, eine Science-Fiction, die ganz ohne menschliche Charaktere auskommt. Der titelgebende Pallas-Bewohner Lesabéndio betreibt das Projekt, durch einen babylonischen Turmbau den Planetoiden Pallas, aus zwei verbundenen Trichtern bestehet, mit seinem durch eine gewaltige Wolke verhüllten „Kopfsystem“ zu verbinden und dadurch mit dem großen All Verbindung aufzunehmen. Wie Clemens Brunn detailliert nachweist, ist der täuschend einfach geschriebene Roman keineswegs nachlässig darauflosgeschrieben, so wie es Scheerbart gerade in den Kopf gekommen ist (wie Arno Schmidt annehmen mochte), sondern streng durchkomponiert und gegliedert, nicht nur in vertikaler Hinsicht (dem Streben nach dem Höheren), sondern auch im horizontalen Aufbau der Figuren, und bietet eine tiefgründige Reflexion über die wechselseitigen Bedingnisse von Ästhetik, Technik und selbst Religion. Schon Walter Benjamin hat dazu angemerkt; „Dabei hat die geistige Überwindung des Technischen ihren Gipfel erreicht, da die Nüchternheit und Sprödigkeit des technischen Vorgangs zum Symbol einer wirklichen Idee geworden ist.“ Der Lesabéndio hat, in den Worten Walter Benjamins, jene Reinheit, die man Stil nennt.
Der Anspruch der Kunst, die Welt umzuformen, wie in Münchhausen und Clarissa oder Die Glasarchitektur verkündet, wird hier einer fortschreitenden Kritik unterzogen, dadurch relativiert und erreicht schließlich eine religiöse Dimension. Scheerbart stellt nicht nur die Welt, wie sie ist, in Frage, sondern auch die eigenen Ideen; charakteristisch für seine Prosa ist, wie er jeden Anflug von Pathos durch bewusste Schnoddrigkeit, durch banale Einfügungen und clowneske Apercus im Keim abtötet. Scheerbart war, wie alle großen Humoristen, ein tief melancholischer Mensch, der seine zur Weltverdrossenheit gesteigerten Kritiken der verqueren Moral der bürgerlichen Gesellschaft als Narretei und Possenhaftigkeit tarnt und ihrer Scheinmoral eine radikal revolutionäre antibürgerliche Kunstauffassung entgegensetzt.