Das Freiheitsbekenntnis von David Foster Wallace: Wende Dich anderen Menschen zu!

WallaceZum Warmlaufen für die Lektüre der deutschen Übersetzung des Mammutromans „Infinite Jest“ (deutscher Buchtitel: Unendlicher Spaß) von David Foster Wallace kann ich die „Kenyon-Rede“ von Wallace empfehlen, die die Vielschichtigkeit des Autors unter Beweis stellt. Die Tageszeitung „Die Welt“ hatte vor einigen Monaten das rhetorische Meisterstück abgedruckt: Die enorme Last des Erwachsenwerdens

„WER DAS COLLEGE VERLÄSST, WEISS NICHTS“, proklamierte Wallace: „Alles, was ich unmittelbar erlebe, stützt meine tiefe Überzeugung, dass ich das absolute Zentrum des Universums bin, die wirklichste, lebendigste und wichtigste Person, die es gibt. Weil sie so sozial unverträglich ist, sprechen wir nur selten über diese Art natürlicher, grundlegender Selbst-Zentriertheit, aber tief drinnen ist es für uns alle ziemlich dasselbe. Es ist unsere Standardeinstellung und fest in unseren Platinen verdrahtet, wenn wir geboren werden. Denken Sie darüber nach: Es gibt keine Erfahrung, die Sie gemacht haben, deren absolute Mitte nicht Sie selbst gewesen wären. Die Welt, wie Sie sie erleben, ist direkt vor Ihnen oder hinter Ihnen, links oder rechts von Ihnen, auf Ihrem Fernseher, auf Ihrem Bildschirm. Anderer Leute Gedanken und Gefühle müssen Ihnen irgendwie kommuniziert werden, Ihre eigenen hingegen sind so unmittelbar, dringlich, wirklich – Sie verstehen schon“, so der Schriftsteller. Doch der Alltag sieht völlig anders aus, er ist trivial, ermüdend, langweilig. Kommt man nach einem arbeitsreichen Tag nach Hause und muss den Gang in einen riesigen, überbeleuchteten Supermarkt antreten, wird alles zur Qual. Mitmenschen werden zu Störenfriede.

„Man muss seinen schrottigen Einkaufswagen an all den anderen müden, gehetzten, Einkaufswagen schiebenden Leuten vorbeimanövrieren, und natürlich sind da auch noch diese glazial langsamen alten Leute und diese raumgreifenden Leute und die ADHS-Kinder, die allesamt den Gang versperren, und man muss die Zähne zusammenbeißen und sich um Höflichkeit bemühen, wenn man sie bittet, einen vorbeizulassen, und schließlich, endlich hat man zusammen, was man fürs Abendessen braucht, nur dass sich jetzt herausstellt, dass, obwohl doch Feierabend ist, nicht genug Kassen geöffnet haben, weshalb die Schlange an der Kasse unfassbar lang ist, was dumm und ärgerlich ist, aber an der panischen Frau hinter der Kasse kann man seinen Ärger ja nicht auslassen. Jedenfalls, endlich ist man dran und zahlt und wartet, dass eine Maschine die EC-Karte akzeptiert, und kriegt mit einer Stimme ‚Schönen Abend‘ gesagt, die unumschränkt die Stimme des Todes ist, und dann muss man seinen Einkaufswagen mit den gruseligen, hauchdünnen Plastiktüten voller Lebensmittel über den vollen, holprigen, zugemüllten Parkplatz schieben und die Tüten so in seinem Auto verstauen, dass nichts rausfällt und während der Fahrt nach Hause im Kofferraum rumrollt, und dann muss man den ganzen Weg nach Hause fahren, im zähen, dichten geländewagenintensiven Feierabendverkehr“, sagte Wallace.

Die Arbeit der Entscheidung beginne mit derart frustrierendem Kleinkram. „Weil Stau und überfüllte Supermärkte und lange Schlangen mir Zeit zum Nachdenken geben, und wenn ich keine bewusste Entscheidung treffe, wie ich denken und worauf ich achten will, werde ich jedes Mal, wenn ich einkaufen muss, angekotzt und unglücklich sein, weil meine natürliche Standardeinstellung besagt, dass es sich hier eigentlich um mich dreht, um meinen Hunger und um meine Erschöpfung und um meinen Wunsch, bloß nach Hause zu kommen, und es sieht so aus, als wären alle anderen mir bloß im Weg, und wer sind all diese Leute, die mir im Weg sind, überhaupt“, fragt sich Wallace. Jeder kleine Egozentriker denkt doch wirklich so. Es ist der automatische, unbewusste Weg, die langweiligen, frustrierenden, überfüllten Teile des Erwachsenenlebens zu erfahren, wenn ich mit der automatischen, unbewussten Überzeugung operiere, die Mitte der Welt zu sein, und glaube, dass meine unmittelbaren Bedürfnisse und Gefühle in der Welt Priorität haben sollten.

Dabei ist doch eigentlich jeder in der gleichen Situation. Jeder andere in der Schlange an der Kasse ist genauso angeödet und frustriert. Viele Leute erleben ein hartes und mühsames oder sogar schmerzliches Leben. Dabei ist es doch gar nicht so schwierig, dem Rat von Wallace zu folgen, die Welt auch mit anderen Augen zu sehen: „Es wird sogar in Ihrer Macht stehen, eine laute, langsame, wimmelnde Konsumhöllensituation nicht nur als bedeutungsvoll, sondern als geheiligt zu erleben, von derselben Macht entflammt, die die Sterne angezündet hat – Mitgefühl, Liebe, die Unteroberflächeneinigkeit aller Dinge. Nicht, dass solch mystisches Zeug notwendig wahr wäre: Die einzige Wahrheit mit großem W ist, dass Sie entscheiden, wie Sie es sehen. Sie entscheiden bewusst, was Bedeutung hat und was nicht. Sie entscheiden, was die Verehrung lohnt“.

Der Trick sei, die Wahrheit täglich im Bewusstsein zu halten. Glaube an die Macht – du wirst dir schwach und ängstlich vorkommen und immer mehr Macht über andere brauchen, um deine Angst im Zaum zu halten. Glaube an deinen Intellekt, glaube daran, für clever gehalten zu werden – am Ende wirst du dir nur noch dumm vorkommen, wie ein Betrüger, immer kurz davor, entlarvt zu werden.

Zu der wirklich wichtigen Form von Freiheit gehörten Aufmerksamkeit und Bewusstheit und Disziplin und Bemühen und die Fähigkeit, sich anderen Menschen wahrhaftig zuzuwenden und Opfer für sie zu bringen, wieder und wieder, jeden Tag, auf Myriaden von Arten, die trivial, klein und unsexy sind. Das sei wirkliche Freiheit.