
Thomas Vašek beschreibt in der Philosophie-Zeitschrift „Hohe Luft“ mit einem Exkurs zu den Schriften von François Jullien, wie sinnlos es ist, Pläne für die Zukunft zu schmieden. „Unsere westliche Vorstellung ist geprägt von dem Bild des zupackenden Akteurs, der sich heroisch den jeweiligen Umständen entgegenstellt.“ Unsere westlichen Denkgewohnheiten sind davon beseelt, Zweck-Mittel-Relationen festzulegen. Wir wählen ein Ziel und fangen dann mit der Planung an. „Dahinter steht die modellhafte Vorstellung, dass unser Handeln einen bestimmten kausalen Effekt auf den Lauf der Dinge hat. Wenn wir A tun, dann tritt die Wirkung B ein“, schreibt Hohe Luft-Chefredakteur Vašek.
Heroisches Handeln mit Pseudowirkung
Das chinesische Denken misstraut dem heroischen Handeln, weil es oft nur eine Pseudowirkung hat. Nur allzu gern versuchen wir krampfhaft, den Faktor Glück zu ignorieren und für unser Tun eine gehörige Portion Kausalität schlichtweg zu erfinden. Klugheitsstrategen hingegen nutzen die jeweiligen Umstände und loten Handlungsoptionen aus. Geschmeidigkeit und Anpassung ersetzen die rationale Planung. „Wir können die Wirkung unseres Handelns nicht beeinflussen“, betont Vašek. Besser ist das „Nicht-Handeln“. Damit ist nicht Passivität oder Trägheit gemeint, sondern die innere Haltung, Dinge nicht erzwingen zu wollen.
Günstige Entwicklungen abwarten
Für den chinesischen Strategen geht es um den Zeitpunkt, in dem eine günstige Entwicklung beginnt. Diesen Moment muss man erkennen und richtig zu nutzen wissen. In der Lehre vom „Nicht-Handeln“ steckt ein Korrektiv für alle selbsternannten Macher, Pseudo-Evangelisten, Berater, Manager und Politiker, die Geschäftigkeit mit Effizienz verwechseln, Aktionismus mit Wirksamkeit.
Wie kann man als Nicht-Handelnder agieren? Beim Wissenschaftstheoretiker und Philosophen Karl Popper wird man fündig. Er spricht von der „Stückwerk-Sozialtechnik“. Sein politisches Ideal ist das schrittweise Herumprobieren oder Herumbasteln. Es geht nicht um die Durchsetzung von Tabula-Rasa-Methoden oder um die Allwissenheit von Politikern, die sich gerne in der Pose des Machers darstellen, sondern um Versuch und Irrtum. Niemand ist in der Lage, alles richtig zu machen. Niemand kann genau wissen, wie sich Gesellschaft und Wirtschaft entwickeln. Politische Ziele können nach Ansicht von Popper ehrgeizig formuliert werden. Im Regierungsalltag können sie aber auch fehlschlagen.
Problematisch in der Politik sei häufig die Kombination von Wirrnis und Aggressivität in der politischen Debatte, so Popper.
Nüchterne Diskussionskultur
Mit der Stückwerk-Sozialtechnik pflege man hingegen eine nüchterne Diskussionskultur, da es nicht um abstrakte Ideale geht, unter denen möglicherweise jeder etwas anderes versteht, sondern um kleine Schritte.
Popper ist der Auffassung, dass uns „die Anwendung der Methode des stückweisen Umbaus über die allergrößte Schwierigkeit jeder vernünftigen politischen Reform hinweghelfen wird, nämlich über die Frage, wie wir es anstellen sollen, dass bei der Durchsetzung des Programms die Vernunft und nicht die Leidenschaft und Gewalt zu Worte kommt”.
In einer Politik der kleinen Schritte fällt es leichter, sich zu korrigieren und Fehler zu identifizieren. Für viele politischen Protagonisten ist diese Methode natürlich eine Zumutung. „Ein solches Herumbasteln entspricht nicht dem politischen Temperament vieler Aktivisten“, schreibt Popper. Die wollen eher schnelle Lösungen aus der Tasche zaubern und sich als unfehlbare Staatslenker profilieren. Mit den realpolitischen Gegebenheiten hat das aber nichts zu tun. Das gleicht eher der Schiffsmetapher von Otto Neurath, Mitglied des Wiener Kreises.
Reparaturen auf offener See
Das Schiff liegt auf dem Ozean und passt in keine Werft – jegliche Reparaturen, Verbesserungen, Abänderungen erfolgen auf dem Wasser. Sie können nur stückweise erfolgen, eine Generalüberholung ist niemals möglich.
„Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können.“
Es gibt Traditionen, Institutionen, Gesetzbücher und eine über Jahrzehnte gelebte politische Kultur. Die Stückwerk-Methode von Popper macht aus dem Politiker einen Forscher, dem Fehler unterlaufen müssen. Entscheidend ist die Gewissheit, nicht das gesamte System zu zerstören. Altkanzler Helmut Schmidt war von dieser Vorgehensweise beseelt. Nachzulesen im Opus von Jack Nasher: Die Staatstheorie Karl Poppers.
Hat dies auf http://www.ne-na.me rebloggt.
Gefällt mir sehr gut. Du stehst damit seltsam gegen die Zeit, weil überall nach den “einschneidenden” Maßnahmen gerufen wird und vielen der Sinn nach Großreformen steht, die dann auf einen Schlag zwanzig Übel auf einmal erledigen.
Gerade vor einigen Wochen bin ich aus einer anderen gedanklichen Richtung ebenfalls auf die Dialektik der “kleinen Schritte” bzw. der graduellen vs. sprunghaften Veränderungen gestoßen (werde ich vielleicht noch bloggen, nicht fertig geworden). Die Dialektik besteht darin, dass die kleinen Schritte in den letzten 150 Jahren mehr Positives erreicht haben als viele große Schritte, die versucht wurden. Allerdings sind sie auch zahlreicher und im Grunde der übliche Modus des Vorankommens.
Man kann die Metapher der Schritte auch noch weiterspinnen und sagen, es sei wie beim Wandern: Bergauf oder auf “komplizierten” Abschnitten geht man lieber mit kleinen und langsamen Schritten, auf glatten Wegen sollte man größer ausschreiten. Genauso gibt es “ruppelige” politische Themen und “glatte” politische Themen.
Z.B. ist Breitbandausbau ein “glattes” Thema – das muss nur gemacht werden, wirklich komplizierte Aspekte gibt es nicht. Wohnungsbau ist schwieriger, weil ökonomisch verwickelter. Einerseits werden Wohnungen fast nur gebaut, wenn finanzielle Absichten damit verbunden sein dürfen, andererseits muss das sozial ungebundene Spekulieren begrenzt sein. Einerseits soll ökologisch gebaut werden, andererseits wird dadurch das Wohnen teurer. Das alles vor dem Hintergrund der Zinsniveaus, die sich unabhängig von Regelungen und Gesetzen entwickeln. Etc. Ob hier die große Lösung die Beste ist? Oder eher eine Politik der Vielzahl von kleinen gesetzgeberischen Maßnahmen, die jede für sich gut revidierbar und veränderbar ist und die sich dann in der Gesamtwirkung potenzieren.
Der Konflikt Israels mit den Palästinensern ist auch ein gutes Beispiel, wie der Wunsch nach einer Durchbruchlösung für jahrzehntelange Verschärfung sorgt. Vermutlich hätten 50 kleine Maßnahmen längst einen Durchbruch bringen können.
Das Thema der Flexibilität und Reagibilität kennt man auch sehr gut von IT-Architekturen. Die starre, “monolithische” Großlösung erweist sich bei der nächsten neuen Anforderung als dysfunktional.
Popper wurde in den Zeiten, als die “Kritische Theorie” fast schon kanonisch war, schräg angesehen, weil zu wenig utopisch, zu wenig revolutionär und zu sehr dem Vorhandenen verpflichtet. In einer Zeit der Polarisierung durch geschürte und hoch distribuierte Irrationalismen sieht man es vielleicht etwas anders und entdeckt, wie du hier, dass man mit einem langsam und besser auszusteuernden Fortschritt schneller voran kommt.
Wir können ja mal etwas gemeinsam machen.