Geisteswissenschaft und Rhetorik: Die Bedeutung des günstigen Moments und seiner flüchtigen Natur in der frühen Neuzeit @FU_Berlin

Der Kombinatoriker Lullus – Denkmal in Palma de Mallorca – fast jeder geht bei seinem Malle-Urlaub an ihm vorbei, kaum einer kennt sein Lebenswerk – tragisch.

In der Geisteswissenschaft, insbesondere in der Rhetorik und Philologie der frühen Neuzeit, spielt das Konzept des „günstigen Moments“ (Occasio) eine zentrale Rolle. Wie Professorin Anita Traninger in ihrer Vorlesung an der FU Berlin im vergangenen Jahr eindrucksvoll darlegt, ist die Erforschung dieser Idee eng mit der Göttin Fortuna und den Werken des katalanischen Philosophen Raimundus Lullus verknüpft – da klingeln bei Sohn@Sohn aber die Ohren.

Die Figur der Occasio, oft dargestellt als flüchtige Göttin mit einem kahlen Hinterkopf und einer einzigen Haarlocke an der Stirn, symbolisiert den flüchtigen Moment, der genutzt werden muss, bevor er unwiederbringlich verstreicht. Diese Darstellung, geprägt durch Werke wie das „Emblematum Liber“ (Erstauflage 1531) von Andrea Alciato, verweist auf die tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Konzept des günstigen Moments in der Kunst und Literatur der Renaissance.

Fortuna, die Göttin des Zufalls und der Schicksalhaftigkeit, ist eng mit Occasio verwoben. In der frühen Neuzeit wurde Fortuna oft kritisch betrachtet, da sie die Unberechenbarkeit des Lebens und das Schicksal der Menschen lenkt. Die Darstellung der Fortuna und der Occasio in der Literatur und bildenden Kunst jener Zeit spiegelt die zentrale Auffassung wider, dass das menschliche Leben von unvorhersehbaren Wendungen geprägt ist, die sowohl Chance als auch Risiko bedeuten.

Zudem stellt Traninger die Bedeutung der Arbeiten von Raimundus Lullus für die rhetorische Theorie und Praxis der frühen Neuzeit heraus. Lullus’ Idee der „Ars Combinatoria“, ein System, das darauf abzielt, durch Kombination elementarer Begriffe neue Erkenntnisse zu generieren, beeinflusste tiefgreifend das rhetorische Verständnis seiner Zeit.

Die Adaption seiner Methoden führte zu einer Art Sprachgenerierung, die darauf abzielte, Redner in die Lage zu versetzen, über jedes beliebige Thema spontan und eloquent zu sprechen. Das übernehmen jetzt ChatGPT und Co.

Die Rezeption von Lullus‘ Werk zeigt, wie stark das Interesse an Methoden zur Beherrschung der Spontanität in der Rede war, ein Aspekt, der eng mit dem Konzept der Occasio verknüpft ist. Das Training der rhetorischen Fähigkeiten, insbesondere die Fähigkeit, den günstigen Moment zu nutzen, wurde als essenziell für erfolgreiche öffentliche Auftritte angesehen.

In ihrer Vorlesung skizziert Traninger auch, dass die Auseinandersetzung mit Occasio und Fortuna in der Rhetorik der frühen Neuzeit nicht nur theoretischer Natur war, sondern auch praktische Implikationen für die Ausbildung und das Selbstverständnis von Rednern hatte. Die kulturelle und intellektuelle Bewältigung dieser Konzepte formte die Art und Weise, wie Gelehrte über Sprache, Literatur und die Kunst der Überzeugung dachten und lehrten.

In ihrer umfassenden Auseinandersetzung mit dem Konzept der Occasio und dem günstigen Moment widmet sich Professorin Traninger auch dem Phänomen der Stegreif-Rede, einem zentralen Element rhetorischer Kunst in der frühen Neuzeit. Dieser Exkurs beleuchtet die Bedeutung und die spezifischen Herausforderungen, die die Stegreif-Rede für Redner dieser Epoche darstellte.

Herausforderungen der Stegreif-Rede

Die Fähigkeit, spontan und eloquent zu sprechen, wurde in der frühen Neuzeit als ein Ideal der rhetorischen Fertigkeit angesehen. Dieses Ideal wurzelt tief in der klassischen Antike, insbesondere in den Werken Ciceros, der den perfekten Redner als jemanden beschreibt, der jedes Thema „ex tempore“ – aus dem Stehgreif – behandeln kann. Die Stegreif-Rede setzt eine enorme geistige Flexibilität und ein umfassendes Wissen voraus, da der Redner in der Lage sein muss, auf unvorhergesehene Ereignisse oder Fragen sofort reagieren zu können.

Die Herausforderung besteht darin, nicht nur inhaltlich korrekt, sondern auch stilistisch überzeugend zu sprechen. In der Praxis bedeutete dies oft eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Anspruch, jederzeit rhetorisch brillieren zu können, und der tatsächlichen Fähigkeit, unter Druck kohärent und präzise zu formulieren. Berndt hebt hervor, dass viele Gelehrte der frühen Neuzeit diese Diskrepanz durch das umfangreiche Studium klassischer Texte und durch das Memorieren von Redewendungen und Zitaten zu überbrücken suchten.

Papst verlangt neue Rede

Traninger erwähnt eine Anekdote von Michel de Montaigne über einen Redner namens Monsieur de Poyet, der während eines hochrangigen diplomatischen Treffens zwischen Papst Clemens VII. und König François I. in Marseille eine lateinische Ansprache halten sollte. Poyet, der seine Rede sorgfältig vorbereitet und den Text bereits in Paris fertiggestellt hatte, sah sich unerwarteten und unvorhersehbaren Anforderungen gegenüber: Am Tag der Ansprache änderte der Papst das Thema, um diplomatische Spannungen zu vermeiden. Dies machte den ursprünglichen Text von Poyet nutzlos, und da er sich nicht in der Lage fühlte, spontan eine neue Rede zu verfassen, musste der Auftrag an Kardinal Jean du Bellay übertragen werden.

Bedeutung der Anekdote

Diese Anekdote illustriert die Unberechenbarkeit des günstigen Moments und die Notwendigkeit, auf unvorhersehbare Veränderungen vorbereitet zu sein. Sie verdeutlicht, dass auch sorgfältige Vorbereitung und rhetorische Finesse den Erfordernissen des Moments untergeordnet sind, wenn sich plötzliche und unerwartete Änderungen ergeben. Die Fähigkeit, flexibel und anpassungsfähig zu sein, wird somit zu einem entscheidenden Aspekt der rhetorischen Kompetenz.

Lehrreiche Aspekte für die Rhetorik

Die Geschichte zeigt, dass die wirkliche Herausforderung für Redner nicht nur darin besteht, ihre Sprache oder ihre Argumente zu perfektionieren, sondern auch darin, sich auf die flüchtige Natur der Occasio einzustellen. Es ist ein lebhaftes Beispiel dafür, wie die Antizipation und das Management von Unsicherheit integraler Bestandteil der Kunst der Rhetorik sind. Diese Anekdote lehrt, dass die Bereitschaft, sich an neue Umstände anzupassen, genauso wichtig ist wie die ursprüngliche Vorbereitung der Rede.

Abschließend lässt sich festhalten, dass die Vorlesung von Professorin Traninger einen tiefen Einblick in die Komplexität und Vielschichtigkeit des Konzepts des günstigen Moments innerhalb der geisteswissenschaftlichen Tradition bietet. Ihre Analyse verknüpft historische, philosophische und literarische Stränge zu einem kohärenten Bild, wie menschliches Handeln und göttliche Launenhaftigkeit durch das Medium der Rhetorik und Symbolik der frühen Neuzeit verhandelt wurden.

Das passt gut zum Interview-Credo und zu den redaktionellen Konzepten von Sohn@Sohn für Fachmessen, Konferenz, Roundtable-Gespräch und dergleichen.

Es passt auch gut zur Thematik über das In-Game-Coaching von Alonso 🙂

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