
Kann sich noch jemand an die semantischen Atompilze eines gewissen Herrn Brüderle im Kreise der um Machterhalt bemühten Atomstrom-Lobbyisten erinnern. Damals schrieb ich ja regelmäßig meine Kolumne “Die liebwertesten Gichtlinge” für “The European” unter der Ägide des Gründungsherausgebers und Chefredakteurs Alexander Görlach. Ich war da einer der Rekordhalter, was die Zahl der Kolumnen angeht.
Jedenfalls schrieb ich im Jahr 2011, dass die FDP-Liebe zur zentralistisch organisierten und mit Steuergeldern vollgepumpten Atomindustrie als provinzielle Randnotiz oder Lachnummer in die Geschichtsbücher eingehen würde. Damals zitierte ich einen SZ-Beitrag von Christian Nürnberger: „Darf ein Staat die Atomenergie durchsetzen, obwohl keine Versicherung das Restrisiko versichert? Obwohl es keine Endlager für den Atommüll gibt? Und obwohl stets klar war, dass ein einziger Super-GAU das Vielfache dessen kosten wird, was zuvor von allen Atomkraftwerken zusammen erwirtschaftet worden war?“ Wenn es um die großen Themen wie die Sicherheitsüberprüfung aller Atomkraftwerke der EU-Mitgliedsstaaten geht, baut man auf Freiwilligkeit. Verbindliche Regelungen bewegen sich halt nur auf Glühbirnen-Niveau. Demokratie ist im Netzzeitalter kein Zuschauersport mehr, so der Slogan des Online-Netzwerks MoveOn. Das erleben wir nur noch in den Fernseh-Talkshows mit den immer gleichen Polit-Nasen, die ihre Worthülsen zum Besten geben. Die Laberkultur im Bescheidwisserduktus entspricht nicht mehr den Beteiligungsmöglichkeiten, die das Netz bietet. Egal ob nun Rote, Grüne, Gelbe oder Schwarze regieren, Hinterzimmerpolitik, Vereinsmeierei, Sesselkleber-Karrieren, Machtspielchen und alternativlose Politphrasen erzielen kaum noch Wirksamkeit. Liebwerteste Gichtlinge in den Parteien, reißt die Mauern eures engen Klosters nieder und führt ein freies Mönchsleben, wie es Francois Rabelais in seiner Abtei Thelema erdacht hat: „Wo Mauern sind, da ist hinten und vorn nur Murren und Knurren, Trauern, Versauern, Neid, einer macht wider den andern Meut.“ Das Leben der Thelemiten hingegen „ward nicht geführt nach Satzung, Regel noch Statuten, sondern nach eigner freyer Wahl!“
Zentralistisch, großindustriell, subventionsbelastet, wettbewerbsfrei – die Atomindustrie ist ein Fossil, schrieb ich in einem weiteren Beitrag für “The European” vor 12 Jahren. Es ist höchste Zeit, unsere Energieversorgung anders zu organisieren. Dezentrale und hocheffiziente Konzepte versprechen die Energiewende und schaffen die Innovation gleich mit.
Die Romantiker des alten und überkommenen Industriekapitalismus zählen zur reaktionären Fraktion im Lande. Sie halten an einer Großtechnologie von vorgestern fest, um die liebgewonnenen Pfründe ihrer oligopolistischen Macht zu bewahren. Mit einer zentralistischen Energieversorgung lassen sich sattere Renditen einfahren. Wo käme man denn hin, wenn Städte und Kommunen auf dezentrale und hocheffiziente Konzepte setzen würden, sich abkoppeln von den Stromkonzernen und damit unabhängiger das Energiemanagement regeln. Das stinkt nach mehr Wettbewerb, schwächt die Möglichkeiten für politische Muskelspiele und verringert das Spielfeld für die Lobbyisten der zerbröselnden Deutschland AG. Wer von den Preisrisiken eines Atomausstiegs redet, sollte über das Abwälzen von Kosten und Risiken der Atomenergie auf die Steuerzahler nicht schweigen. Würde man die Gesamtkosten in den Strompreis einrechnen und die Milliarden Euros an Fördergeldern für AKWs raus rechnen – Ökonomen nennen das Internalisierung externer Effekte – müssten wir schon längst weitaus mehr für eine Kilowattstunde berappen.
Die Atomenergie bindet gigantische Finanzmittel, personelle Ressourcen und konserviert unwirtschaftliche Großorganisationen der Energiewirtschaft. Wenn wir eine Energiewende erreichen wollen, brauchen wir allerdings mehr als nur Anti-Atom-Demos. Wir benötigen „Technikoptimismus“, wir brauchen Hochleistungen der Ingenieure, Investitionen in moderne Infrastrukturen und Offenheit für neue Verfahren, Kraftwerke und Leitungen, auch wenn sie in der eigenen Nachbarschaft errichtet werden.
Wer Nein zur Atomenergie sagt, darf nicht gleichzeitig technische Innovationen behindern, die als Kompensation unverzichtbar sind. Jährlich fallen beispielsweise rund 400 Millionen Tonnen Abfälle, die man als Energiequelle nutzen könnte über mechanisch-biologische Verfahren in Kopplung mit Blockheizkraftwerken. Mit einem computergesteuerten Rotteverfahren kann man organische Abfälle trocknen, metallische Werkstoffe und mineralische Störstoffe aussortieren. Als Ergebnis entsteht ein kompaktes Endprodukt mit einem Brennwert auf dem Niveau von Braunkohle. Wird Energie aus Abfall mit einem hohen biogenen Anteil gewonnen, trägt das zudem zur Einsparung von klimarelevanten Kohlendioxid-Emissionen bei. Das Treibhauspotenzial wird um den Faktor 10 reduziert. Nur ein Beispiel, wie man die klimapolitischen Argumente der AKW-Befürworter kontern kann. Wenn wir den Atomausstieg wollen und die alten Energieträger in den Ruhestand verabschieden, brauchen wir eine neue Infrastruktur.
„Wir brauchen ein positives Leitbild, wie eine saubere, zukunftsfähige und sichere Energieversorgung gestaltet werden soll – national und auf europäischer Ebene. Viele Ansätze bestehen bereits; die müssen jetzt gebündelt werden“, sagte 2011 der IT-Fachmann Bernd Stahl. Der Branchenverband Bitkom hatte kürzlich auf der Cebit an die Bundesregierung appelliert, den Aufbau des sogenannten „Smart Grids“ zu forcieren. Nur im Zusammenspiel von Stromerzeugern, Netzbetreibern, Geräteherstellern, Unternehmen und Verbrauchern realisieren wir nicht nur eine grüne und smarte Energieversorgung. Die ITK-Branche tüftelt bereits an diesem intelligenten Stromnetz der Zukunft. Denn das Netz wird über das Internet gesteuert und reagiert flexibel auf die schwankende Einspeisung etwa durch Windkraft und Sonnenenergie. Erzeuger und Verbraucherhaushalte sind über intelligente Stromzähler und andere Geräte miteinander verbunden, so sollen zum Beispiel E-Autos automatisch Energie laden, wenn zu viel davon im Netz ist. Auch in Deutschland experimentieren Unternehmen und Forschungsinstitute, wie das Netz jederzeit fehlerfrei und mit garantierter Dienstgüte laufen kann. Ein zentraler Punkt: Die Sicherheit muss jederzeit gewährleistet sein:
„Die Netze müssen vorbereitet werden, damit in einem Katastrophenfall lebensvitale Funktionen nicht unkontrolliert wegbrechen“, so Stahl. Dem Smart Grid könnte dabei eine alte Technik helfen – das ISDN-Netz. Für manch einen noch als aktueller Standard angesehen, ist das ISDN-Netz längst veraltet. 15 Jahre ist die Hardware über den Daumen gepeilt im Einsatz – vergleichbar mit einem Computer aus dem Jahr 1995, der durchs Internet des Jahres 2011 kriecht. Doch das ISDN-Netz hat auch seine Vorteile: garantierte kurze Antwortzeiten zu jedem Ziel, sehr hohe Verfügbarkeit, Unabhängigkeit vom öffentlichen Stromnetz und ein kontrolliertes Verhalten im Katastrophenfall. Gerade im Notfall wird durch Prioritäten gesteuert, dass wichtige Einrichtungen bevorzugt versorgt werden. „Im Internet muss diese Kombination von Leistungsmerkmalen noch implementiert werden, damit es für Smart Grid und andere Applikationen robust genug ist“, sagt Stahl. Die Qualitätsmerkmale des ISDN müssen praktisch im Smart Internet der Zukunft neu erfunden werden, „so wie aus einer Raupe ein Schmetterling wird, wenn die richtige DNA vorhanden ist“, sagt Stahl. Eine ähnliche Metamorphose steht dem Smart Grid noch bevor. Es geht also beim Atomausstieg nicht um Maschinenstürmerei, sondern um eine Innovationsoffensive. Soweit mein Text 2011.
Was ist davon realisiert worden? Da ist eine Menge Luft nach oben. Und was schreibt der FAZ-Redakteur Marcus Theurer heute: Deutschland muss die fruchtlose Atomdebatte hinter sich lassen. Für das langfristige Gelingen der Energiewende ist sie ein Randthema. Die größere Herausforderung wird der Ausstieg aus der Kohle (nachzulesen bei Stefan Pfeiffer). Und ein paar andere Dinge, die ich in meiner The-European-Kolumne beschrieben habe.
Mit Gesterndebatten schaffen wir die Energiewende nicht. Mit den Anregungen meiner Kolumne vor 12 Jahren schon 🙂