
Gerade feiern die Verlage erste Erfolge mit ihren Digital-Abos, da droht nach Erkenntnissen von Richard Gutjahr neues Ungemach. “Die Digitalanzeigen brechen ein – in einem Umfang und Tempo, wie das wohl keiner für möglich gehalten hätte. Wohin die Budgets wandern, ahnt der seriengestählte Zuschauer natürlich längst. Und dass sich die Sender und Verlage ihre Netzprojekte ausgerechnet mit Lobby-Zuwendungen aus dem Silicon Valley subventionieren lassen (Google News Initiative und Facebook Journalism Project), sorgt für die nötige Würze im Plot”, schreibt er in einem Journalist-Gastbeitrag.
Die Medienkrieger sollten lernen, dass ihre Feinde gar nicht im fernen Mountain View und Menlo Park sitzen. Wenn ich mir die Urheberrechtsdebatten der vergangenen Wochen anschaue, ist bei den Medienschaffenden genau dieses alte Feindbild präsent. Der Feind sitzt aber woanders, wenn man überhaupt von Feind reden kann. Es liegt an unserem Nutzungsverhalten.
“Durch die Omnipräsenz der Bildschirme verschiebt sich die Medien-Arithmetik unserer Gesellschaft immer weiter weg vom Papier hin zu den Screens und damit zu audiovisuellen Darstellungsformen. Texte werden wahrgenommen, aber nur selten wirklich gelesen”, schreibt der Blogger und TV-Journalist Gutjahr.
Einen der deutlichsten Vorboten für den strukturellen Wandel im Journalismus seht er in Smartphone-Apps wie Snapchat, Instagram, aber auch in Streamingplattformen wie Netflix oder YouTube. “Man stelle sich das Rezo-Video („Die Zerstörung der CDU“) als Blogpost vor, oder gar als gedruckten Text. Mit sämtlichen Fußnoten und Quellenverweisen. Rezo … wer? Gegenfrage: Wer (Berlin-mittige Politik- Redakteure mal ausgenommen) hat das elfseitige Positionspapier der CDU als Antwort auf das Rezo-Video gelesen? Eben.”
Der Branchenverband Bitkom habe kürzlich ermittelt, welche Handyfunktion (nach Musik) jungen Menschen am wichtigsten ist. Das Ergebnis: Video. Noch vor Social Networks und den Messenger-Diensten.
“Auf den Bildschirmen um mich herum stelle ich eine deutliche Zunahme von Netflix-, Amazon Prime und sonstigen Video-Inhalten fest. In diesem Herbst starten in den USA sowohl Apple als auch Disney neue milliardenschwere Streamingdienste. 2020 folgt Quibi, eine Videoplattform, die speziell auf Smartphone-Bildschirme zugeschnitten ist (und mit fünf US-Dollar im Monat achtmal preiswerter ist als ein Digital-Abo der Süddeutschen Zeitung). Mit günstigeren Datenplänen sowie zunehmender Bandbreite verlagert sich der Trend ganz klar weg vom Text in Richtung Bewegtbild. Berüchtigt der Ausspruch von Netflix-Gründer Reed Hastings, man konkurriere nicht mit Zeitungen oder Zeitschriften: ‘Unser Konkurrent ist der Schlaf.'”
Wo werde der Platz für Journalisten sein, wenn in dieser Arena bald jeder gegen jeden um Aufmerksamkeit buhlt? “Was wird unsere Raison d‘être sein, wenn immer mehr Politiker, Unternehmer oder Sportler ihre eigenen Kommunikationskanäle betreiben und uns, die klassischen Gatekeeper geschickt umgehen, indem sie ihre Geschichten direkt an das Publikum aussenden? Wofür wird man uns noch brauchen?”, so Gutjahr.
Journalisten seien zu Pferdekutschern des Digitalzeitalters geworden und haben es noch nicht einmal gemerkt oder verdrängt.
Gutjahr glaubt nicht, dass es noch lange Sinn macht, die besten Medieninhalte – mit einem dicken „Plus“ versehen – hinter einer wie auch immer gearteten Bezahlschranke zu verstecken. Die Texte, für die wir einst bezahlt worden sind, haben in Zukunft einen anderen Zweck: Sie sind der Werbetrailer für das eigentliche Produkt.
Man müsse neben Artikeln, Podcasts und Livestreams verstärkt Erlebnisse schaffen. “Persönliche Erfahrungen, die analog, endlich, vor allem aber nicht digital replizierbar sind. Ich könnte mir ganze Festivals vorstellen, bei denen Verlage, TV- und Radiosender oder einzelne Formate wie zum Beispiel die Tagesschau mit ihren markantesten Köpfen auf Tour gehen, um live vor Ort ihre Recherchen zu präsentieren und zu diskutieren. Ansätze dafür gibt es bereits. Der Spiegel experimentiert immer häufiger mit Bühnenformaten. Die Zeit exportiert ihr Gesprächsformat ‘Deutschland spricht’ in andere Länder. Die Lesergemeinschaft des Handelsblatts – der Handesblatt Wirtschaftsclub – hat sich für den Verlag auch finanziell zu einer tragenden Säule gemausert”, erläutert Gutjahr. Aber das sind insgesamt wohl nur bescheidene Ansätze.
Es ist nach Meinung von Gutjahr bezeichnend, dass Sender und Verlage inzwischen viele ihrer journalistischen Talente an Tech-Konzerne oder digitale Publikationen wie BuzzFeed, Vice oder an T-Online verloren haben.
Statt neue Vermarktungsmodelle einzuführen, verplempern viele Medienschaffende ihre Zeit mit Urheberrechtsdebatten – also auf GEMA und VG Wort-Niveau. Blöd nur, dass der Verteilungskuchen immer kleiner wird. Da helfen dann Artikel 13-17-Scharmützel nicht mehr weiter.
In #9vor9 haben wir das heute diskutiert: