
Was Joseph Schumpeter mit David und Gottfried Eisermann zu tun hat, dürfte den Lesern des Schumpeter-Bandes, an dem ich mitgewirkt habe, bekannt sein. Noch einmal zur Erinnerung:
Schumpeter hat in seiner Bonner Zeit von 1925 bis 1932 eine beachtliche soziologische Lehr- und Vortragstätigkeit entfaltet. All das erforscht übrigens seit den 1990er Jahre der Berliner (!) Sozialwissenschaftler Ulrich Hedtke. Vielleicht lag es an seiner Schrift “Stalin oder Kondratieff. Endspiel oder Innovation? (Sowie:) Nikolai Kondratieff: Strittige Fragen der Weltwirtschaft und der Krise”, die Hedtke auf die Spur von Schumpeter gebracht hat. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen über ein Live-Interview mit dem Schumpeter-Forscher in Berlin. In Bonn war es jedenfalls Gottfried Eisermann, der sich intensiv mit Schumpeter beschäftigte. Darauf machte mich dessen Sohn David Eisermann auf Facebook aufmerksam:
„Im Nachhinein darf man ihn (also Schumpeter, gs) als Bonns ersten Soziologen bezeichnen. Einen Lehrstuhl für Soziologie hat es an der Bonner Universität damals nicht gegeben. Der wurde erst 1962 eingerichtet – zwölf Jahre, nachdem Schumpeter in den USA gestorben war. Mein Vater hatte ihm 1962 seine Bonner Antrittsvorlesung gewidmet. Aber die Zeit war damals für eine Wiederentdeckung oder Neubewertung Schumpeters noch nicht reif.“
Gottfried Eisermann bezeichnet Schumpeter als sozialwissenschaftlichen Spiritus rector der Bonner Alma Mater. Sein ganzes Werk sei von soziologischen Denkmitteln durchsetzt und unerlässlich von soziologischen Stützpfeilern getragen.
„Diese Eigenschaften seines Werkes und seiner Person waren daher bereits unverkennbar ausgebildet, als er zum Wintersemester 1925/26 dem Ruf auf den Lehrstuhl von Dietzel an die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität folgte, an der er während der Dauer seiner Zugehörigkeit regelmäßig Kollegs über ‚Gesellschaftslehre‘ hielt und dadurch zu seinem Teil der in jener Zeit umstrittenen Soziologie als Wissenschaft den Weg bahnte.“

Die Soziologie taucht also nicht zufällig so häufig in den Bonner Vorlesungen von Schumpeter auf. Das verstärkte sich, als er 1927 seinen ersten Aufenthalt als Gastprofessor an der Harvard Universität antrat. So hatten sich die dortigen Soziologen noch nicht vom wirtschaftswissenschaftlichen Institut abgespalten, um eine selbständige “Gruppe für Sozialbeziehungen” zu bilden. Das erwies sich für Schumpeter als glücklicher Umstand, denn seine eigene Betrachtungsweise der Nationalökonomie orientierte sich immer stärker an der Soziologie. In Harvard hatte er die Möglichkeit, sich mit den besten Köpfen auf diesem Gebiet auszutauschen und diese Erkenntnisse mit seinen eigenen wirtschaftswissenschaftlichen Arbeiten zu kombinieren. Und die Lust an der Kombination spielt ja im Werk von Schumpeter eine nicht unwesentlich Rolle. Im November des vergangenen Jahres hat nun David Eisermann einige Daten zum wissenschaftlichen Wirken seines Vater veröffentlicht, die ich hier noch einmal wiedergeben möchte. Schließlich werden wir das in der Schumpeter-Lesung am Dienstag, den 26. März, um 20 Uhr im Buchladen46 ausführlich erörtern – also David und ich.

“Am 6. November 2018 wäre mein Vater Gottfried Eisermann 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlaß habe ich für das Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn einen kurzen Abriß seiner Laufbahn zusammengestellt. Vorweg ein Kuriosum: nachdem mein Vater in den Ruhestand getreten war, wurde seine Stelle an der Fakultät umgewidmet. Auf die umgewidmete Stelle ist dann Reinhard Selten berufen worden. Der Nobelpreisträger von 1994 bezog die Arbeitsräume des vormaligen ‘Instituts für Soziologie’, das seit Ende der 60er Jahre fortgeführt worden war als eine Abteilung des ‘Instituts für Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften’. Gottfried Eisermanns Berliner Doktorvater war Friedrich Bülow; 1946-48 war er Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin, gleichzeitig Mitarbeiter der ‘Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung’, des späteren Ministeriums für Volksbildung der DDR; in seiner freiberuflichen Zeit 1948-50 legte er mit seiner Festschrift für den Soziologen Alfred Vierkandt (1867-1953) den Grundstein für seine Hochschullaufbahn im Westen. Einer der Beiträger war der Emigrant Alexander Rüstow (1885-1963; ‘Ortsbestimmung der Gegenwart’), der nach Heidelberg berufen wurde und dort Gottfried Eisermann zu seinem engen Mitarbeiter machte. Rüstow – Vorsitzender der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft – betreute auch Eisermanns Habilitationsverfahren, abgeschlossen 1957 mit der Lehrbefähigung für ‘Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften’. Im Dekanat der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät in Bonn ist bis heute eine Handakte erhalten, die Einblick in die Planungen gibt, hier (und nicht an der Philosophischen Fakultät) den ersten Bonner Lehrstuhl für Soziologie einzurichten. Bereits Joseph Schumpeter war ja an die Bonner Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät berufen worden (allerdings nicht auf eine Professur für Soziologie). Nach Gottfried Eisermanns Berufung im Mai 1962 wurde sein Lehrstuhl (mit einer venia legendi für ‘Soziologie’) zwar als ‘Institut für Soziologie’ organisiert – mit mehreren Mitarbeiterstellen. Spätestens nach dem Tod Erwin von Beckeraths wurde aber seitens der Fakultät der ursprüngliche Plan für einen eigenen Studiengang Soziologie nicht weiter verfolgt. Erwin von Beckerath war an der Berufung Eisermanns maßgeblich beteiligt gewesen. Ein Studium der Soziologie war dann zunächst nur für Studenten der Volkswirtschaftslehre möglich, die zuerst den Grad eines Diplom-Volkswirts erwerben mußten (was bei Eisermann möglich war), bevor sie eine Dissertation zu einem soziologischen Thema anfertigen konnten. Eisermanns erster Habilitand war Martinus Emge, der später auf die erste Professur für Soziologie an der Philosophischen Fakultät berufen werden sollte. Anfang 1984 ist Gottfried Eisermann nach altem Hochschulrecht emeritiert worden; d. h. er blieb weiter prüfungsberechtigt und war (technisch gesehen) bis zu seinem Tod 2014 Mitglied seiner Fakultät. Über einen Zeitraum von etwa zwanzig Jahren ist er nach seiner Emeritierung noch mit zahlreichen Publikationen und Vorträgen hervorgetreten. Ein Arbeitsgebiet, das ihm besonders am Herzen lag, war die Geschichte der Soziologie als akademisches Fach – mit zahlreichen Arbeiten über Klassiker der Soziologie. Gottfried Eisermann war unter anderem Ehrendoktor der Universität Padua sowie der Ruhr-Universität Bochum.”
Soweit die Ausführungen von David Eisermann. Genügend Stoff für unsere Gesprächsrunde am Dienstag. Es wird ein unterhaltsamer und spannender Abend. Das Vorgespräch mit David war schon sehr amüsant. Man hört und sieht sich 🙂
Hier die Wiederholung des Gesprächs in meiner Bibliothek:
Das wäre eine Reise nach Bonn wert, wenn ich nicht schon 87 Jahre alt wäre.