Warum der Fachkräftemangel ein Managementversagen ist – und kein Naturereignis #ZPNachgefragtDay #OEB

Im Berliner Konferenzhotel Interconti wird über „Humanity in the Intelligent Age“ diskutiert, zugeschaltet von der Nordseeinsel Borkum analysiert ein Professor die Lage des Landes. Was nach Konferenzroutine klingt, ist in Wahrheit eine sehr nüchterne Inventur: Lutz Becker beschreibt in dieser Session, was Unternehmen, Verwaltungen und Politik bisher nicht wahrhaben wollen – der Fachkräftemangel ist weniger ein demografisches Schicksal als eine Folge falscher Steuerung.

Wer dieser Stunde zuhört, hört kein Lamentieren, sondern eine präzise Diagnose: Wir verwalten ein Wirtschaftsmodell aus dem 20. Jahrhundert mit Instrumenten aus dem 19. Jahrhundert – in einer Gegenwart, die ganz andere Fragen stellt.

Demografie: Die Zukunft, die längst begonnen hat

Demografische Entwicklung ist keine Überraschung. Kohorten lassen sich über Jahrzehnte berechnen. Seit den späten 1970er Jahren liegen Berichte vor, die genau beschreiben, was heute Realität ist: sinkende Geburtenraten, alternde Erwerbsbevölkerung, Belastung der umlagefinanzierten Systeme.

Becker macht deutlich: Es geht nicht nur um Rentenkassen, sondern um die Funktionsfähigkeit der gesamten Volkswirtschaft. Drei Effekte überlagern sich:

Überalterte Unternehmerschaft:
Ältere Inhaber investieren weniger, verschieben Entscheidungen, sichern Bestände. Unternehmen „sehen von innen aus wie Museen“. Maschinenpark, IT, Geschäftsmodell – alles in Würde gealtert, aber nicht mehr zukunftsfähig.

Wachsende Investitionslücke:
Wer auf den eigenen Ruhestand zusteuert, verhält sich nicht wie ein Entrepreneur, sondern wie ein Fondsverwalter: Risiken werden gemieden, Spielräume verengt, Tafelsilber verkauft. Das bremst Produktivität und Innovation.

Strukturelle Blockade für die Jüngeren:
In den USA ist bereits „jobloses Wachstum“ zu beobachten: die Wirtschaft wächst, aber neue Stellen werden kaum geschaffen. Unternehmen halten erfahrene Kräfte länger, reduzieren Neueinstellungen, drehen an der Kapazitätsschraube – und schneiden genau den Nachwuchs ab, den sie morgen dringend brauchen.

    Der Begriff „Fachkräftemangel“ verschleiert diesen Zusammenhang. Knappheit entsteht nicht nur durch fehlende Geburten, sondern durch Organisationen, die nicht mehr in Lebenszyklen, sondern in Quartalen denken.

    Industriepolitik mit agrarökonomischer Brille

    Becker knüpft an eine alte Einsicht aus der Bonner Schumpeter-Zeit an: In der Weimarer Republik wurden die Probleme der Industriegesellschaft mit Denkfiguren der Agrarökonomie bearbeitet. Heute erleben wir eine Variation desselben Musters.

    Wir betreiben Industriepolitik, als ginge es immer noch um Montanindustrie, Großkonzerne und traditionelle Tarifstrukturen. Drei Fehlsteuerungen stechen hervor:

    • Schutz statt Wandel
      Bestandsindustrien werden mit Subventionen, regulatorischen Schutzwällen und politischen Loyalitäten stabilisiert. Die Folge: Unternehmen werden träge, internationale Wettbewerbsfähigkeit sinkt – und neue Branchen haben kaum Zugang zu Kapital, Flächen, Aufmerksamkeit.
    • Montanallianz 2.0
      Politik, Großunternehmen und Teile der organisierten Arbeiterschaft ziehen am gleichen Strang – aber oft in Richtung Vergangenheit: Standortsicherung, Besitzstandswahrung, Großprojekte ohne klare Wertschöpfungsperspektive. Die langfristigen Kosten werden sozialisiert, die Gewinne privatisiert.
    • Ewigkeitskosten als Geschäftsmodell
      Beispielhaft stehen dafür Altlasten aus Kohle, Atomenergie oder neue Projekte wie CCS, bei denen laufende Kosten über Generationen entstehen, ohne dass ein nachhaltiger Ertrag erzeugt wird. Es ist das Gegenteil einer ökonomisch gedachten Kreislaufwirtschaft.

    Der zentrale Irrtum: Man verwechselt Wirtschaftspolitik mit der Betreuung einiger prominenter Branchen. Mittelständische, wissensintensive und junge Unternehmen kommen in dieser Logik nur als Randnotiz vor – obwohl sie die eigentlichen Träger der Erneuerung sind.

    Fachkräftemangel ist ein Organisationsproblem

    Ein roter Faden der Session: Das Thema Arbeitskräfteverfügbarkeit wird in Deutschland technisch, rechtlich, moralisch diskutiert – aber zu selten organisatorisch.

    Becker beschreibt drei Felder, in denen Organisationen ihre eigenen Engpässe produzieren:

    Arbeitsort und -zeit
    Die Pandemie hat bewiesen, dass Remote Work funktioniert. Statt diese Erfahrung strategisch zu nutzen („Arbeit zu den Menschen bringen“), schwingt das Pendel vielerorts zurück: Präsenzpflicht, zentrale Büros, starre Strukturen. Damit werden Regionen mit schrumpfender Bevölkerung zusätzlich geschwächt, statt intelligente Modelle zu fördern: Coworking in der Fläche, hybride Teams, „atmende“ Büroinfrastruktur.

    Strukturen in Verwaltung und Politik
    Öffentliche Organisationen bleiben in Kästchendiagrammen gefangen. Bezirksvertretungen können Infrastrukturvorhaben blockieren, weil sie nur den eigenen Hinterhof sehen. Digitale Mängelmelder existieren als App, aber nicht als funktionierender Prozess: Bürger melden Probleme, erhalten weder Feedback noch sichtbare Lösung. Technik wird eingeführt, Organisation bleibt analog.

    Unternehmensinterne Silos
    In Großunternehmen ist es manchmal attraktiver, „der Nachbarabteilung vors Schienbein zu treten“, als eine Gesamtlösung zu finden. Ressourcen, die in internen Machtspielen gebunden werden, fehlen beim Aufbau zukunftsfähiger Arbeitsplätze und attraktiver Karrierepfade für junge Leute.

      Der Fachkräftemangel zeigt sich zunächst als statistische Größe. In der Praxis ist er oft das Ergebnis eines Managements, das Strukturen nicht an veränderte Realitäten anpasst.

      Migration: Strategische Ressource, bürokratisch entwertet

      Im Gesundheitswesen, in der Pflege, im Handwerk sieht jeder, der hinblickt, die schlichte Realität: Ohne zugewanderte Fachkräfte würden viele Einrichtungen kollabieren. Die Pflegeheime und Krankenhäuser, von denen Becker berichtet, funktionieren nur noch, weil Menschen aus Asien, der arabischen Welt, Osteuropa und Afrika dort arbeiten.

      Gleichzeitig wird die Zuwanderung qualifizierter Menschen durch ein Dickicht aus Anerkennungsverfahren, Zuständigkeiten und restriktiven Regeln ausgebremst:

      • Ein Elektroingenieur aus Pakistan muss in Deutschland noch einmal von vorn beginnen, eine Lehre machen, um überhaupt arbeiten zu dürfen – obwohl er zuvor in großen Resorts die technische Leitung verantwortet hat.
      • Radiologen mit abgeschlossenem Studium aus anderen Ländern werden in Deutschland wie Berufsanfänger behandelt.
      • Asylsuchende dürfen oft jahrelang nicht arbeiten, obwohl es überall Engpässe gibt.

      Aus Managementsicht ist das irrational: Man klagt über Fachkräftemangel, investiert gleichzeitig Milliarden in Automatisierung – und hält potenzielle Leistungsträger durch Bürokratie vom Arbeitsmarkt fern. Der Staat agiert wie ein Unternehmen, das groß in Marketing investiert und dann die Eingangstür abschließt.

      Fördermittel, Pilotprojektitis und die Kunst des Rollouts

      Ein weiterer blinder Fleck, den Becker anspricht: Die Logik der öffentlichen Förderung. Es mangelt nicht an Programmen und Töpfen, sondern an klaren Prioritäten und konsequenter Umsetzung.

      Typisches Muster:

      • Fördermittel werden in zahllose Pilotprojekte gestreut.
      • Nach Projektende existieren Berichte, Abschlussworkshops, vielleicht eine Website.
      • Was fehlt, ist der systematische Übergang in den Regelbetrieb.

      Das Ergebnis ist eine „Pilotprojektitis“: Städte, Regionen, Branchen sammeln Leuchttürme – aber die Dunkelzonen dazwischen bleiben unberührt. In einer Welt schrumpfender Arbeitskräftepotenziale können wir uns diese Verschwendung nicht leisten.

      Ein Beispiel aus der Session:
      IoT-basierte Füllstandssensoren in Abfall- und Altkleidercontainern könnten illegale Müllablagerung reduzieren, Logistik optimieren, Ressourcen besser recyceln. Stattdessen werden Container überfüllt, Versuche bleiben lokal, erfolgreiche Modelle werden nicht flächendeckend ausgerollt. Wertvolle Metalle landen als Straßenfüllmaterial im Boden, anstatt in industriellen Kreisläufen.

      Die Lehre daraus:
      Wer Fachkräfte nicht verschwenden will, darf auch keine Ideen verschwenden. Produktivität entsteht dort, wo Technologien konsequent skaliert und organisatorisch verankert werden.

      Was HR-Management jetzt wirklich tun müsste

      Die Session mit Lutz Becker lässt sich als Agenda lesen, ohne dass diese explizit ausformuliert wurde. Übertragen auf Unternehmenspraxis ergibt sich ein Katalog von Aufgaben, die weit über das übliche HR-Vokabular hinausgehen:

      Demografie als strategischen Kernparameter behandeln
      Nicht nur Altersstruktur der Belegschaft analysieren, sondern auch der Inhaber- und Führungsebene. Wo Unternehmer überaltern, braucht es aktiv vorbereitete Übergaben, Beteiligungsmodelle, interne und externe Nachfolgeregelungen.

      Organisation um knappe Zeitfenster bauen
      Wenn Fachkräfte rar sind, darf ihre Zeit nicht in internen Reibungsverlusten verpuffen. Prozessdesign, klare Verantwortlichkeiten, funktionierende digitale Workflows sind kein IT-Thema, sondern Überlebensbedingung.

      Arbeit zu Menschen bringen – systematisch
      Hybride Modelle, Coworking in der Fläche, Teamtage statt tägliche Präsenz, temporäre Projekträume in Hotels oder Hubs: Wer so plant, erschließt Talente, die sich nicht an tradierte Bürokonzepte binden wollen oder können.

      Zuwanderung als Wertschöpfungskette denken
      Unternehmen können nicht alle Gesetze ändern, aber sie können Verfahren vereinfachen, sprachliche und fachliche Integration anbieten, mit Kammern und Behörden kooperieren und Druck aufbauen, Anerkennungsprozesse zu beschleunigen. Wer klagt, aber nicht gestaltet, verschenkt Potenzial.

      Automatisierung vom Engpass her denken
      Robotik und KI dort einsetzen, wo Arbeit schlicht nicht mehr besetzt werden kann (Nachtschichten, monotone Tätigkeiten, gefährliche Umgebungen) – nicht primär dort, wo es kurzfristig Personalkosten spart, aber langfristig Kompetenzen zerstört.

      Von Piloten zu Plattformen wechseln
      Jedes erfolgreiche Projekt sollte mit einem Skalierungsplan starten: Welche Einheit ist der Standardfall für den Rollout? Welche Budgets, welche Zuständigkeiten braucht es? Wer für Wiederholbarkeit sorgt, entlastet Menschen – und verstärkt Wirkung.

      Vom Mangel zur Verantwortung

      Die Session „Zukunft ohne Nachwuchs?“ führt in eine unbequeme Wahrheit: Der Fachkräftemangel ist nicht nur das Ergebnis niedriger Geburtenraten und globaler Konkurrenz. Er ist Ausdruck eines Systems, das jahrzehntelang auf die Verlängerung des Bestehenden gesetzt hat – in Unternehmen, in Verwaltungen, in der Politik.

      Die gute Nachricht: Was durch Organisation verschärft wurde, kann durch Organisation auch gemildert werden.

      • Wenn Management Demografie nicht als Statistik, sondern als strategischen Rahmen versteht.
      • Wenn Politik Wirtschaft nicht mit Branchen verwechselt.
      • Wenn Förderpolitik nicht Projekte, sondern Lösungen finanziert.
      • Wenn HR nicht an Stellenanzeigen, sondern an Wertschöpfungsketten arbeitet.

      Dann wird aus der Angst vor der „Zukunft ohne Nachwuchs“ eine Aufgabe, die sich gestalten lässt.

      Die Berliner Session mit einem Professor auf Borkum zeigt: Es fehlt nicht an Analysen. Es fehlt an Entscheidungsträgern, die den Mut haben, aus diesen Analysen Konsequenzen für Strukturen, Prozesse und Anreizsysteme zu ziehen. Genau dort beginnt moderne Wirtschaftspolitik – und professionelle Unternehmensführung.

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