
Es war und ist „nur“ eine Diskussion auf Facebook – ein Streit zwischen Tim Cole, Peter Kabel, einigen weiteren Kommentatoren und mir. Und doch ist es mehr als ein Wortgefecht im Netz. Es ist ein Symptom für eine Stimmungslage in Deutschland, die zunehmend beunruhigt.
Ausgangspunkt war Coles Blogpost über Gaza: eine Suada über Pharaonen, Philister und Kanaanäer, die am Ende in der provokanten These mündete, es sei „passender, von der Umsiedlung der Juden zu sprechen“. Ein Satz, der mich persönlich trifft.
Die Umkehrung der Verantwortung
In der Debatte griff Peter Kabel den Faden auf. Seine These: Die Hamas sei im Grunde ein Produkt israelischer Politik. Netanjahu habe sie groß gemacht, finanziert, durch Bartransfers gefüttert, als Hebel gegen die Fatah. Ohne Israel, so das Argument, wäre Hamas nie zur Macht gelangt, nie imstande gewesen, den blutigen Putsch in Gaza durchzuführen.
Das ist eine elegante These – und gerade deshalb so gefährlich. Denn sie verschiebt Verantwortung. Plötzlich ist die Hamas nicht mehr Täter, sondern Spiegel. Ihre Massaker? Nur die logische Konsequenz israelischer Politik. Ihre Terrorherrschaft? Eine Art dialektische Antwort auf Netanjahus Zynismus.
Natürlich: Israel hat Fehler gemacht. Das Tolerieren von Katar-Geldflüssen nach Gaza, das Kalkül, Fatah zu schwächen – alles real, alles dokumentiert. Aber Hamas wurde 1987 gegründet, lange vor Netanjahu, als Ableger der Muslimbruderschaft. In ihrer Gründungscharta ruft sie offen zur Vernichtung Israels und zum Mord an Juden auf. Wer das übersieht, begeht eine gefährliche Verkürzung: Er entlastet die Täter und verlagert die Schuld auf das Opfer.
Rhetorische Verschiebung: vom Existenzrecht Israels zur „rassistischen Gesellschaft“
In der Diskussion ging es schnell weiter: Von der Behauptung, Israel habe Hamas gezüchtet, zur Pauschalverurteilung der israelischen Gesellschaft. „Rassistisch bis ins Mark“, hieß es. Die Demonstranten in Tel Aviv seien nur eine „woke Bubble“. Arabische Israelis seien keine gleichwertigen Bürger, Punkt.
Was hier geschieht, ist eine rhetorische Verschiebung. Aus Kritik an Netanjahu wird eine Delegitimierung Israels insgesamt. Aus strukturellen Problemen wird die Behauptung, das ganze Land folge einer extremistischen Ideologie. Aus berechtigter Empörung über Ungleichheit wird eine Totalanklage: Israel als Apartheidstaat, als Unrechtsregime, als Tätergesellschaft.
Wer so argumentiert, baut die Brücke von Kritik an einer Regierung zur Infragestellung des Staates. Genau das erleben wir derzeit massenhaft in Deutschland: eine gefährliche Grauzone zwischen Antizionismus und Antisemitismus.
Die blinden Flecken
Bemerkenswert ist, was in diesen Debatten fehlt. Kein Wort über den 7. Oktober 2023, über 1.200 ermordete Israelis, über Frauen, Kinder, Alte, Geiseln. Kein Wort über die jahrelangen Raketenangriffe auf israelische Städte, die nur durch den Iron Dome nicht in täglichen Massakern endeten. Kein Wort über Hamas’ Charta, über ihre Unterdrückung der eigenen Bevölkerung.
Stattdessen: die Projektion allen Übels auf Israel. Gaza als Opfer, Hamas als Spiegel, Juden als „Newcomer“, Israel als strukturell rassistisch. Diese Einseitigkeit ist nicht nur historisch schief – sie ist moralisch blind.
Die deutsche Stimmungslage: Es wird eng
Was mich beunruhigt, ist nicht, dass Tim Cole eine schräge historische Erzählung entwirft oder dass Peter Kabel eine These zur Hamas konstruiert. Es ist, dass solche Positionen in Deutschland breite Resonanz finden. In Talkshows, in Zeitungen, auf Demonstrationen, in Leserbriefspalten. Die Umsiedlung von Juden wird wieder „diskutierbar“. Israel wird dämonisiert, seine Verteidigungsmaßnahmen werden mit Vernichtung gleichgesetzt, sein Existenzrecht wird rhetorisch unterhöhlt.
Für mich heißt das: Es wird eng in diesem Land. Ich sehe, wie die öffentliche Meinung kippt – wie Kritik an Netanjahu zu einer anti-israelischen Grundstimmung mutiert. Ich spüre, wie die Shoah relativiert wird, wenn man sagt: „Was haben die Palästinenser damit zu tun?“ Ich erlebe, wie Juden wieder in die Rolle gedrängt werden, sich rechtfertigen zu müssen: für ihr Existenzrecht, für ihren Staat, für ihr bloßes Überleben.
Debatten wie diese zeigen: Wir stehen an einer Schwelle. Entweder wir halten fest an einer ehrlichen Erinnerungskultur, die die Shoah nicht instrumentalisiert, sondern die Lehre daraus ernst nimmt: Juden brauchen Sicherheit in einem eigenen Staat. Oder wir lassen zu, dass Geschichte verdreht wird, Verantwortung verlagert, Täter zu Spiegeln erklärt werden und Opfer zu Schuldigen.
Die Palästinenser verdienen Gerechtigkeit, ja. Aber Gerechtigkeit für Palästinenser darf nicht heißen, Israel zu delegitimieren. Wer Netanjahu kritisiert, darf nicht das Existenzrecht Israels in Frage stellen. Wer auf Menschenrechte pocht, darf Terror nicht relativieren.
Wenn diese Klarheit verloren geht, dann kippt die Stimmung. Und dann wird es für Juden in Deutschland wirklich eng.