Stephan Sulke – „Letzte Tanke vor der Grenze“: Ein Alterswerk, das nicht altert

Frühling 2025, Bonn. Sulke sitzt in der Springmaus, als wäre die kleine Bühne ein Kontrollzentrum für sein Spätwerk. Kein Nostalgie-Barde, eher ein Mann, der mit 82 immer noch weiß, wie man mit einem Satz die komplette Selbstgewissheit einer Zeit erschüttert. In Interviews sagt er: „Wir leben in einer freiheitsfeindlichen Zeit. Die Masse zählt und nicht der Einzelne.“
Auf der Bühne klingt das genauso – nur eleganter.

„Letzte Tanke vor der Grenze“ ist handnummeriert, limitiert und – wie er selbst grinsend sagt – „teuer wie Sau“. Es wirkt wie eine Bestandsaufnahme ohne Wehmut. Aufgenommen in Nizza, Lippstadt, Berlin, Bristol, Köln und Mannheim zwischen 2023 und 2025: ein globales Atelier für einen Künstler, der die Welt längst in seinem Kopf trägt.

Der Sound bleibt sein Markenzeichen: dieser „süße, gemütliche musikalische Fluss“, der in Wahrheit eine Finte ist. Unter den weichen Linien sitzen Rasierklingen.

„Ich lieb dich so“ – das Herz des Albums

Im Album taucht ein Sulke auf, der nicht mehr um Worte ringt, sondern um das Verstummen selbst.

„Ich hab ein Leben lang nur dich besungen
Und jedes Lied ist nur für dich erklungen…“

Und dann dieser unverrückbare, entwaffnende Satz:

„Doch irgendwie – weiß nicht wieso
Sag ich dir nie – ich lieb dich so.“

Sulke beschreibt Jahrzehnte einer Beziehung ohne Ornament:

„In allen unsern Kriegen
Ließ ich mich stets von dir besiegen.“

Eine Zeile, die unendlich mehr über Paarpsychologie erzählt als jeder Psychologieratgeber.

Es ist diese Mischung aus Schonungslosigkeit und Sanftheit, die seine Liebeslieder seit Jahrzehnten begleitet – und die ihn zu einem der wenigen macht, die Intimität nicht verhübschen, sondern freilegen.

Der Song wirkt wie der emotionale Magnet des Albums.

Der Rest der Platte kreist um diese Ehrlichkeit

„Betrunken von dir“ taumelt nicht, es seziert ein Paar, das „nie versucht hat, sich zu versteh’n“.

„Kohle“ ist ein ätzender Kommentar zur Weltordnung, in der „die wahre Droge dieser Welt“ eindeutig benannt wird.

„Meine Mama summte manchmal dieses Lied“ ist ein Erinnerungstrümmerfeld, ein Song über Verblassen und Vergessen:

„Die schönsten Bilder bleichen mit der Zeit…
Und letzte Freundin wird die Einsamkeit.“

„Ich knie vor keinem nieder“ klingt wie Sulkes musikalische Autobiografie: Schon die ersten Zeilen markieren die Grenze zwischen ihm und jeder Form von geistiger Fremdverwaltung:

„Ich bin kein Stellvertreter / Ich ruf nicht zum Gebet / Ich will dir nicht für später / Versprechen was nicht geht.“

Während andere Künstler sich heute bereitwillig in Deutungskollektive einordnen, legt Sulke hier eine Art musikalisches Resistenzpapier vor. Er verweigert jede Rolle, die ihn zum moralischen Lautsprecher machen könnte. Nichts von Erlösung, nichts von Sendung, nichts von Guru-Allüren. Nur ein schlichter Satz, der wie eine Lebensformel wirkt:

„Glaub lieber an mich selber / An meine eig’ne Kraft.“

In einer Zeit, die ständig neue Sprachregeln, Gesinnungsnormen und kollektive Erregungsrituale hervorbringt, wirkt dieses Opus wie eine kleine, elegante Sabotage. Keine Wut, kein Brüllen – nur ein ruhiger Entzug von Gefolgschaft.

Der Song arbeitet sich nicht an politischen Gegnern ab. Er richtet sich gegen etwas viel Grundsätzlicheres: gegen Dogma als Lebensform.

„Doktrin und ihr Gedrängel / Verdunkeln nur die Sicht.“

Das ist Sulke pur. Nicht Mutmaßung, nicht Attitüde – eine poetische Selbstdiagnose. Der Zweifel ist für ihn kein hinderlicher Schatten, sondern der Raum, in dem Freiheit überhaupt erst existiert. Kein Wunder, dass er im Cicero-Interview die geistige Erstarrung des Kulturbetriebs beklagt und sagt: „Wie kann jemand, der Rock’n’Roll macht, ‚Künstler:innen‘ schreiben? Was ist das für eine Unterwerfung?“

Genau hier schlägt „Ich knie vor keinem nieder“ in dieselbe Kerbe: Er singt gegen jede Form der Selbstverzwergung. Auch moralische Drohkulissen lehnt er ab:

„Ich zähl dir keine Sünden / Ich droh nicht mit dem Tod.“

Das ist eine Absage an jede autoritäre Pädagogik, an religiöse wie politische Machterzählungen. Sulke beharrt auf etwas, das im Kulturbetrieb selten geworden ist: individuelle Verantwortlichkeit ohne ideologische Kulissenschieberei.

„Bubi“, im Interview vom Künstler selbst als Paradebeispiel seines süß-bitteren Stils genannt, ist ein kaltes Sozialdrama:

„Mama spreizt für Heroin die Beine.“
„Als der Zug kam stand er auf den Gleisen.“
Ein Lied, das in drei Minuten mehr Gesellschaftsanalyse liefert als manche Talkrunde in drei Stunden.

Der Titelsong: Das leise Finale ohne Pathos

„Hab niemals auf den Pegelstand geschielt,
Hab nur auf’s Gas gedrückt – und das zur Gänze.“

So beschreibt Sulke nicht nur eine Autofahrt, sondern sein künstlerisches Leben: keine Sicherheitsnetze, keine Kasko. Und die Frage, die den Song trägt – „Willst du weiterhin dem Fahrer trau’n?“ – ist eigentlich an die Hörer gestellt.

Der alte Anarchist kann’s noch

Sulke sagte im Cicero-Interview über seine Generation:

„Im Grunde waren wir Anarchisten.“

Dieses Album beweist, dass er es geblieben ist – leise, präzise, unbeeindruckt von der Gesinnungsakustik rundherum. Er veröffentlicht keine Streams, bietet das Album nicht mal Radios an. „Wer’s haben will, muss es halt kaufen.“

Ein Satz wie ein Manifest.

„Letzte Tanke vor der Grenze“ ist kein Abschied.
Es ist ein Spätwerk, das härter, wacher und ehrlicher klingt als viele Debüts.
Ein Album, das nicht altert – weil es sich weigert, sich einzureihen.

Siehe auch:

Kommentar verfassen

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.