
Es beginnt harmlos. Immer. Mit einem Wort, das „heute nicht mehr geht“. Ein Name, der „komisch klingt“. Eine Figur, die „falsch wirkt“. Ein Witz, der „aus der Zeit gefallen“ sei – als hätte die Zeit jetzt eine Hausordnung und der Humor eine Chipkarte.
Dann tritt sie auf: Gewerbeoberlehrerin Greta Gründlich. Nicht als Person, eher als Funktion. Ein Betriebssystem. Sie trägt das Klemmbrett wie andere ein Schutzschild. Und sie lächelt dieses Lächeln, das nie lächelt, sondern abgleicht: Soll-Ist. Abweichung. Maßnahme.
Ihr Werkzeug ist der Zeigestock. Er ist nicht grob. Er ist hygienisch. Er tippt nicht auf Menschen, sondern auf Zeichen. Auf Silben. Auf die Stellen im Text, an denen die Sprache noch so tut, als sei sie frei. Tick. Tick. „Das streichen wir.“ Tick. „Das ersetzen wir.“ Tick. „Das neutralisieren wir.“
Früher nannte man so etwas Zensur und bekam rote Ohren, wenn man es sagte. Heute nennt man es „Überarbeitung“, „Sensibilisierung“, „Anpassung an die Gegenwart“. Als könne man Geschichte wie ein Smartphone updaten: Version 3.2 – Fehlerbehebung: Ironie entfernt, Ambivalenz geschlossen, Nebenwirkungen minimiert.
Und dann, der eigentliche Zaubertrick: Greta Gründlich ist nie allein. Für jede Maßregelung zieht sie eine Expertin oder einen Experten aus dem Hut. Es ist die neue Form der Autorität: nicht mehr das Argument, sondern das Personal.
„Ich habe da jemanden, der sich damit auskennt.“
Auskennt womit? Mit der kränkenden Wirkung einer Silbe, der Gefährdungslage eines Witzes, der Symbolik eines Fantasie-Orts. Das ist die moderne Alchemie: aus einem Verdacht wird ein Befund – und aus dem Befund ein Eingriff. Und der Befund ist stets so formuliert, dass man ihn kaum prüfen kann, ohne selbst schon verdächtig zu wirken.
Die Expertise arbeitet wie Nebel: Man kann nicht dagegen anrennen, man kann nur husten.
Fridolin wird geschlachtet, damit Freundlichkeit regiert
Nehmen wir Fridolin Freudenfett im Donald-Duck-Imperium. Ein Name, der so offensichtlich erfunden ist, dass er gerade deshalb funktioniert: Übertreibung, Klamauk, Kindersprache mit Bauch. Aber in der neuen Verwaltung der Wörter gilt: Jede Übertreibung ist eine Ordnungswidrigkeit.
Freudenfett? Das klingt nach Körper. Nach Genuss. Nach unkontrollierter Freude. Also wird Fridolin – man muss das Wort so brutal sagen – geschlachtet und umformatiert. Heraus kommt: Fridolin Freundlich.
Freundlich ist die ideale Eigenschaft in einer Welt, die nicht mehr lesen, sondern abnicken will. Freundlich ist ein Zustand, der keine Gegenrede provoziert. Freundlich ist der weichgespülte Sieg der Form über den Witz.
Und draußen, in der Realität, benutzen reale Menschen Fridolin Freudenfett als Nickname – in sozialen Medien, im Geschäftsleben, in Signaturen. Die Wirklichkeit ist wie immer weiter als das Seminar. Aber das Seminar hat jetzt Zugriff auf die Dateien.
Der Maharadscha von Stinkadore und die Angst vor Fantasiebeleidigung
Noch schöner wird es beim „Maharadscha von Stinkadore“. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Stinkadore – das ist kein Land, das ist ein Geräusch. Ein Geruchswitz. Ein Fantasie-Ort, der die Freiheit der Fiktion feiert: Hier ist nichts real, also darf alles überdrehen.
Aber irgendwo sitzt jemand und denkt: Stink. Das könnte. Das dürfte. Das kann man so nicht.
Und schwupps: „Stirkadore“ – völlig sinnfrei. Ein Buchstabentausch als moralische Heldentat. Zweimal, damit es auch wirklich wirkt. Man sieht förmlich, wie die Expertin aus dem Hut nickt: Jetzt ist der Maharadscha geschützt.
Geschützt wovor? Vor einer Beleidigung, die nur existiert, wenn man sie hineinliest. Das ist das Paradox unserer Säuberung: Man produziert den Verdacht, um ihn dann bürokratisch zu beseitigen. Das ist keine Moral, das ist Textmanagement.
Und nebenbei stirbt das, was Kinderliteratur ausmacht: dass sie frech ist, übertreibt, albern sein darf – und gerade dadurch klug wird.
Das Reinheitsgebot im Diskurs und die Kultur der Prävention
Dann kommt die große Liste, die immer größer wird, weil Listen nie satt werden.
Rotkäppchen bringt Kuchen und Wein zur Großmutter. Wein! Alkohol! Kind! Skandal!
Also marschiert die Prävention ein. Sie kommt nicht als Argument, sondern als „Gefährdungslage“. Sie spricht in Formularen und denkt in Zielgruppen. Der Wolf ist nicht mehr böse, er ist „problematisch“. Das Aufschlitzen ist nicht mehr drastisch, es ist „nicht vermittelbar“. Und der Wein wird zum Beweisstück: eine Flüssigkeit, die im Internet unendlich reproduzierbar ist und „mentale Flurschäden“ verursachen könnte.
Lucky Luke nuckelt an der Zigarette? Früher war das ein Bild für eine Zeit, in der man noch glaubte, dass Erwachsene Dinge tun dürfen, die nicht als Empfehlung gedacht sind. Heute wird daraus Gesundheitsunterricht. Der Cowboy wird zum Nichtraucher-Influencer, der schneller zieht als sein Schatten – allerdings nur noch den Grashalm, der wie ein amtlich genehmigtes Symbol aussieht.
Sherlock Holmes und Drogen? Auch hier: Die Figur ist nicht mehr Figur, sie ist Risiko. Der Text ist nicht mehr Text, er ist Einwirkung. Literatur wird behandelt wie eine Substanz, die man dosieren muss.
Das ist die neue Grundidee: Nicht mehr lesen, sondern absichern. Nicht mehr denken, sondern vorbeugen.
Das Wunder der Unüberprüfbarkeit
Der entscheidende Fortschritt dieser Epoche besteht darin, dass sie sich ständig selbst bestätigt.
Man ruft eine Expertin.
Die Expertin verweist auf „den Forschungsstand“.
Der Forschungsstand ist eine Wolke.
Die Wolke sagt: „Weiterer Klärungsbedarf.“
Und in diesem Klärungsbedarf erledigt man schon mal den Text. Aus Vorsicht. Aus Verantwortungsgefühl. Aus reinem, goldglänzendem Vorauseil.
Es ist die perfekte Maschine: Sie braucht keinen Beweis, nur die Möglichkeit, dass irgendwer irgendwann irgendwas empfinden könnte. Der Verdacht wird zur Währung, die Expertise zur Wechselstube.
Und wer dagegen argumentiert, gilt schnell als jemand, der „das Problem nicht sieht“. Das ist die neue Form der Macht: Man muss die Diagnose akzeptieren, bevor man überhaupt fragen darf, ob sie stimmt.
Rosita Rührschneck und die Republik der Wattebäusche
Wenn wir schon umbenennen, dann bitte konsequent. Dann machen wir es richtig lächerlich, damit man sieht, was passiert.
Hier ein paar geprüfte, zukunftsfeste Ersatznamen – kompatibel mit jedem Leitfaden:
- Rosita Rührschneck (für alle Figuren, die zu sehr nach Leben riechen)
- Lulu Lobedanz (für jedes Wort, das Applaus antönt)
- Prunella Pustekuchen (für jede Pointe, die Staub aufwirbelt)
- Balduin Behutsam (früher bissig, jetzt bekömmlich)
- Ottilie OhneKante (vollständig unauffällig, vollständig genehmigt)
- Siggi Sorgsam (liest nur mit Handschuhen)
- Klara Korrekturblitz (schlägt ein, bevor etwas passiert)
Man merkt: Es ist nicht die Sprache, die hier gerettet wird. Es ist das Bedürfnis, Retter zu sein. Der moralische Reflex, der sich selbst beschäftigt wie eine Behörde, die neue Formulare erfindet, um die alten zu rechtfertigen.
Kant als Störung im System
Und dann steht da dieser Satz, alt, kühn, unhandlich, nicht kompatibel mit dem Zeitgeist als Dienstleistung:
„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“
Das ist der Satz, der in dieser Landschaft wie ein Fehler wirkt. Mut – wozu? Zu Mehrdeutigkeit. Zu Zumutung. Zu dem Gedanken, dass ein Text kein Hygieneprodukt ist. Dass man sich am Lesen auch reiben darf. Dass man stolpern darf, ohne gleich eine Warnbarke aufzustellen.
Wer alles glättet, glättet am Ende auch das Denken.
Wer jedes Wort entkernt, entkernt die Welt.
Und während Greta Gründlich den Zeigestock einpackt und die Expertin zurück in den Hut verschwindet, bleibt eine letzte, unbequeme Frage im Raum:
Wenn wir die Vergangenheit so lange editieren, bis sie uns nicht mehr stört –
wer sind wir dann noch? Leser? Oder nur noch Hausmeister im Archiv?