
Paris ist eine Stadt, die einem nie einfach nur begegnet. Paris tritt auf. Es spielt eine Rolle, und zwar so lange, bis man vergisst, dass man selbst längst eine Nebenfigur geworden ist. Genau an dieser Schwelle – dort, wo die Stadt die Regie übernimmt und der Besucher unmerklich zum Statisten der eigenen Sehnsucht wird – beginnen die „Pariser Abende“ von Roland Barthes: als Protokoll eines Lebens in Zonen, als Choreografie aus Wegen, Menüs, Blicken, Rückzügen und jener nervösen Wachheit, die man spürt, wenn man allein in einem Café sitzt und sich plötzlich wünscht, niemand möge einen ansprechen.

Und dann ist da dieses Zeichen: ein großes goldenes B auf dunkelrotem Grund, seit dem neunzehnten Jahrhundert wie ein Siegel in die Stadt gedrückt. Die Brasserie Bofinger, kaum hundert Meter von der Place de la Bastille entfernt, ist weniger Restaurant als Zeitmaschine, weniger Lokal als Kulisse, in der die Gegenwart nur geduldet wird, solange sie sich benimmt. In diesem Raum, so heißt es, habe Barthes sich „am wohlsten“ gefühlt – nicht bei Einladungen in Wohnungen, nicht im „ernsten“ Restaurantgespräch, sondern in der Brasserie als Institution, in der Unterhaltungen weder seicht noch verkrampft wirken, sondern getragen werden von Spiegeln, Lampen, schwerem Weiß der Tischdecken und dem gedämpften Glanz einer Vergangenheit, die sich wie ein Parfüm in jede Geste legt.

Wer auf seinen Spuren unterwegs ist, merkt schnell: Man läuft nicht zu einem Ort, man läuft in eine Atmosphäre hinein. Du hast das getan – vor Jahren, sagst du – und du musstest nur die Tür aufdrücken, um zu verstehen, was Barthes anzieht: diese fast unverschämte Behauptung, dass ein Raum mächtiger sein kann als ein Thema. Ein Kellner fragt nach dem Platz, nicht nach dem Namen. Eckplatz hinten, Nähe der Kuppel. Fenster, Mitte, Rand. Schon die Sitzordnung wird zur Weltanschauung.

Die Bastille: Freiheit als Verkehrsknoten
Draußen ist die Bastille ein Kreisel: Autos, Mopeds, das nervöse Glitzern der Laternen, die Stadt im Modus „Weiter“. Drinnen, bei Bofinger, macht Paris das Gegenteil: Es wird still, als hätte jemand die Uhr vom Strom genommen. In deinen Bildern sieht man das: das warme Gold des Innenraums, die schweren Polster, die Blumen über den Spiegeln, das Licht, das nicht beleuchtet, sondern beschwört. Und dann dieses Spektakel, das in Paris nie nur Speise ist, sondern immer auch Szene: ein Topf, ein Metallgestell, Flammen, die plötzlich hochschlagen wie eine spontane Opernarie; daneben ein Arrangement aus Fleisch, Kraut, Würsten – ein kleines elsässisches Drama auf weißer Bühne.
Barthes hätte an solchen Abenden wohl gelächelt, nicht weil es „rustikal“ ist, sondern weil es so präzise zeigt, wie Kultur funktioniert: Nicht das Gericht zählt, sondern die Verknüpfung. Bofinger ist Elsass in Paris – Biergeschichte und Austernplatte, Champagner und Sauerkraut, Meer und Binnenland, Herkunftslinien und Gegenwartslärm. Im Text wird daraus eine fast genealogische Idee: Die Speisekarte als Stammbaum, die Brasserie als Ursprungskammer, in der sich „Abstammungslinien“ berühren – der Südwesten und der Osten, das Maritime und das Krautige.
Und während man da sitzt, passiert etwas, das heute fast subversiv wirkt: Man tut – nichts. Keine Musik als Dauerberieselung, keine Zeitschriften als Alibi, kein Display als Fluchtweg. Der Raum duldet keine konkurrierenden Welten. Er verlangt Teilnahme: Blick, Geduld, leises Sprechen, dieses diskrete Einverständnis, dass der Abend nicht optimiert werden muss.
Die Pariser Abende als Algorithmus – nur ohne Gerät
Was Barthes in seinen Notaten macht, wirkt wie ein Gegenentwurf zur Gegenwart: ein Feed, der nicht von Maschinen sortiert wird, sondern von Empfindlichkeiten. Café Flore: Le Monde, Métro, ein Gitarrenspieler, die lästige Moral der Sammlung; Strasbourg–Saint-Denis, ein Saxophon; rue Saint-Denis, so viele Prostituierte, dass Flanieren sofort eine zweite Bedeutung bekommt; ein Hotel mit dem Namen Royal-Aboukir – „welcher Name!“ – und plötzlich wird aus einer Ecke Paris ein verkleinertes New York, melancholisch, trostlos, filmreif.

Das sind keine Anekdoten. Das ist Theorie in Zivil. Barthes zeigt, dass die Stadt nicht nur Kulisse ist, sondern ein System aus Zeichen, das dich liest, während du glaubst, du würdest es betrachten. Und er zeigt etwas, das uns heute in die Kehle fährt: Wie schnell sich der Mensch selbst zum Objekt einer Szene macht, sobald Erotik, Gefahr oder Erwartung ins Spiel kommen. Da ist diese Unruhe, dieses „Schlingern“ zwischen klaren Phasen – Entrée, Menü, Rückkehr – und dazwischen die Zonen des Schweifens, der Irritation, der libidinösen Neugier, die nicht romantisch verklärt wird, sondern als Energie beschrieben, die zugleich beunruhigt und belebt.
Man liest das – und denkt unweigerlich an unsere Gegenwart, in der jede Unruhe sofort wieder eingesammelt wird: als Nachricht, als Story, als Status, als kleiner Beweis, dass man existiert. Barthes dagegen protokolliert die Existenz dort, wo sie sich nicht ausstellen lässt: in der Verlegenheit eines zufälligen Gesprächs, im Ekel eines stinkenden Taxis, in der Rührung über die spontane Freude eines Freundes, in der stillen Frage im Bett: „Und wenn die Modernen nun unrecht hätten?“
Bofinger als Schutzraum der Zeit
Vielleicht ist das die eigentliche Pointe deiner Reise auf Barthes’ Spuren: Du gehst ins Bofinger, weil es sein Lieblingslokal war – und landest in einem Raum, der dich zwingt, dich selbst zu lesen. Nicht mit Pathos, eher wie in einem Spiegel, der einen nicht schöner macht, sondern genauer.
Im Text entsteht aus Wein ein „Textzugriff“: Nach zwei, drei Schlucken beginnt etwas zu schreiben, ganz von allein – Listen, Neigungen, Abneigungen, kindlich, verspielt, wie ein Frage-Antwort-Spiel, das plötzlich die Großeltern heraufbeschwört. „Ich liebe, ich liebe nicht“ – nicht als Lifestyle, sondern als Methode: eine Art Inventur des Körpers, eine Selbstbeschreibung, die sich nicht auf große Bekenntnisse stützt, sondern auf kleine, scharf umrissene Vorlieben.
Und genau hier wird Bofinger politisch, ohne ein einziges politisches Schlagwort zu brauchen. Denn was ist radikaler als ein Ort, der dich aus der Gegenwartshektik herauszieht und dir, ganz altmodisch, Zeit zum Denken abverlangt? Was ist anstößiger als ein Abend, der sich nicht rechtfertigt, nicht „Content“ sein will, nicht einmal besonders „erzählt“ werden muss – weil er schon als Atmosphäre genügt?
Du hast diese Spannung in deinen Bildern eingefangen: draußen die Straße, die Lichterketten, das Hotel-Schild, die Bastille-Nähe – Paris als Bühne. Drinnen ein Tisch, Freunde, ein Glas Rotwein, eine hohe Wasserflasche, ein Moment, der sich nicht beschleunigen lässt, weil er bereits vollständig ist. Und später die Bastille-Säule, blau leuchtend wie ein kaltes Ausrufezeichen in der Nacht: Freiheit, die in Paris immer auch Beleuchtung ist – Symboltechnik im Stadtraum.

Warum Barthes’ Abende heute wieder brennen
Weil sie zeigen, was uns verloren geht, wenn alles sofort Bedeutung haben muss. Barthes’ Abende sind nicht „Erlebnisse“, die man konsumiert, sondern Zustände, in denen man sich aussetzt: dem Zufall, der Erinnerung, der kleinen Demütigung, der kleinen Beglückung. Sie sind eine Schule des Unaufgeregten – und damit, in einer Zeit der Daueraufregung, ein stiller Angriff.
Und vielleicht ist das der Grund, warum ausgerechnet eine Brasserie mit einem großen goldenen B so wichtig wird: Sie ist ein Monument des Nicht-Neuen. Ein Ort, der nicht vorgibt, aktuell zu sein, und gerade dadurch eine Gegenwart eröffnet, die tiefer reicht als Nachrichten: die Gegenwart des eigenen Blicks, der eigenen Empfindlichkeit, der eigenen unvermeidlichen Fragen.
Am Ende steht man wieder draußen, irgendwo zwischen Bastille-Verkehr und Nachtluft, und man begreift: Auf Barthes’ Spuren zu gehen heißt nicht, Orte abzuhaken. Es heißt, sich in eine Weise des Lebens zu begeben, die sich nicht optimiert. Man verlässt das Bofinger nicht satt, sondern wacher – als hätte der Abend, für ein paar Stunden, den Lärm der Zeit zurückgedrängt und Platz gemacht für etwas Seltenes: für das genaue, unmodische Vergnügen, wirklich da zu sein.
Sehr atmosphärisch 😉