„Gute Nacht, Freunde“ – Wenn ein Bonner Geburtstag plötzlich leise wird

In Nikos Wohnung in Bonn ist der Flur zu schmal für das, was er an diesem Abend aufnehmen muss: Mäntel, Umarmungen, Stimmen, Sprachen, Lachen – und diese eigenartige Elektrizität, die entsteht, wenn ein Datum mehr ist als ein Datum. Der 22. Dezember ist hier nicht bloß der Vorabend eines Geburtstags. Er ist eine Schleuse. Man geht hinein, man wartet, man hebt ab – und irgendwann, mitten im Geräusch der Gläser, kippt die Zeit ins Morgen. Dann ist der 23. Dezember da. Und Niko wird dreißig.

Die Wohnung wirkt in solchen Nächten wie ein Gegenentwurf zu allem, was draußen gern „zerfasert“ heißt. Drinnen fügt sich alles: ein Meltingpot von fast allen Kontinenten – mit Ausnahme des Südpols, den man in dieser Runde höchstens als Witz vermisst. Freunde, die seit Jahren bleiben. Manche sind neu, aber auch sie werden sofort eingesponnen in das, was diese Abende ausmacht: eine Treue, die keine großen Worte braucht. Man kommt nicht, um eine Zahl zu feiern. Man kommt, um einen Menschen zu halten – im besten Sinn: ihn sichtbar zu machen, ihn zu umkreisen, ihn zu tragen, wenn es nötig ist.

Niko ist Milianas Sohn. Und damit auch meiner. Dieser Satz ist zugleich schlicht und schwer. Er ist keine Formel, die etwas endgültig ordnet, sondern ein Band, das sich im Laufe der Jahre immer wieder bewähren musste – in guten Nächten wie in den anderen.

Die Musik beginnt früh, als müsste sie eine Grundierung legen. So eine Art Modern-Talking-Karaoke gehört zum Inventar dieser Tradition.

Irgendwann tauchen Michael-Jackson-Moves auf, diese Versuche, den Körper zu einem Ausrufezeichen zu machen. Niemand erwartet Perfektion. Im Gegenteil: Die kleinen Unsauberkeiten sind der Beweis, dass es echt ist. Ein Schritt zu weit, ein Dreh zu schnell, ein Lachen danach – und schon ist die Szene gerettet, ja: besser als gerettet. Sie ist menschlich.

Auf dem Tisch stehen Whiskey und Cola, später mehr Cola als Whiskey und am Ende beides in einem Zustand, den man nur als „unentschieden“ beschreiben kann. Und dann: Zirbenschnaps oder so eine Art Zirbenschnaps. Mein Beitrag. Mein Fingerabdruck. „Du bist schuld“, sagt irgendjemand, und ich nehme die Schuld an wie einen Orden, der nach Wald riecht.

Die Tradition des Hineinfeierns

Das Hineinfeiern ist eine merkwürdige, fast altmodische Kunst. Man macht aus einem Kalenderwechsel einen Übergang, aus einer Minute eine Schwelle. Vielleicht, weil man dem Leben damit eine Form gibt, die es sonst nicht anbietet. Ein Geburtstag kommt ohnehin; aber hineinzufeiern heißt, ihm entgegenzugehen. Man stellt sich dem Datum, statt es nur zu passieren.

Gegen Mitternacht wird die Wohnung dichter. Gespräche bilden Inseln: hier die alten Bonn-Geschichten, da drüben eine Diskussion über Musik, die im nächsten Satz schon wieder in Gelächter kippt. Die Freunde sind ein Netz, das schon lange trägt. Diese Gruppe hat etwas, das man nicht planen kann. Man kann es höchstens pflegen. Und Niko hat es gepflegt – über Jahre, in denen vieles nicht leicht war.

Es gibt Freundschaften, die funktionieren wie Dekoration: schön, aber austauschbar. Und es gibt Freundschaften, die sind Infrastruktur. Sie halten den Alltag zusammen, und sie halten die Ausnahme aus. An Nikos dreißigstem Geburtstag sieht man diese Infrastruktur in Aktion: jemand räumt Gläser weg, ohne gefragt zu werden; jemand holt Wasser; jemand legt einem anderen kurz die Hand auf die Schulter, ohne daraus eine Szene zu machen. Kleine Gesten, die größer sind als jede Rede.

Zum musikalischen Repertoire gehört auch Reinhard Mey. „Gute Nacht Freunde.“ Milianas Lieblingslied.

Es ist erstaunlich, wie ein einziges Stück Musik die Statik eines Raumes verändern kann. Eben noch war alles Bewegung; plötzlich wird es stiller, nicht schlagartig, eher so, als nähme jemand unmerklich die Hand vom Gas. Das Lied ist kein Drama. Es arbeitet nicht mit großen Effekten. Es sagt im Kern: Danke. Für den Platz am Tisch. Für die offene Tür. Für die Wärme, die nicht erklärt werden muss.

Unsere Familie erklärt sich über eine Geschichte – und über eine Entscheidung: dass Bindung nicht verschwindet, nur weil jemand gestorben ist. Miliana fehlt, ja. Aber sie ist anwesend in genau solchen Augenblicken. Als Ton im Hintergrund, der sagt: Schaut, was ihr einander seid.

Niko wird dreißig, und in dieser Zahl steckt eine stille Zumutung: Man ist nicht mehr „jung“ im sorglosen Sinn, aber auch noch nicht „alt“ in einem tröstlichen. Man steht in der Mitte – und die Mitte ist der Ort, an dem man merkt, was trägt. Niko hat Menschen um sich, die tragen. Und er hat eine Familie, die nicht aus reiner Biologie besteht, sondern aus gelebter Nähe.

Draußen in der Stadt liegt Bonn im Dezember oft ein wenig gedämpft, als hätte die Kälte auch den Ton heruntergeregelt. Drinnen in Nikos Wohnung ist es umgekehrt: Wärme, Lautstärke, Leben. Und in der Mitte dieser Wärme ein kurzer, heller Schmerz, der nicht aus der Party fällt, sondern aus dem Leben selbst.

Miliana hätte diesen Abend geliebt: das Chaos, die Treue, die Weltkarte aus Menschen in einer Bonner Wohnung. Und diesen einen Moment, in dem ein Lied aus einem Fest eine Erinnerung macht – und aus Erinnerung wieder Nähe.

Man kann jemanden verlieren. Man kann nicht verlieren, was man miteinander war und ist.

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