Die falsche Metapher vom Faschismus #BloggerCamp

Am Anfang meine Session auf dem BloggerCamp stand kein Tool, keine Plattform, sondern eine Akte. Eine Patientenakte aus dem Bundesarchiv in Koblenz. Darin die Diagnose „Taboparalyse“ – Spätfolge der Syphilis, neurologischer Verfall, Lähmung. Sie steht beim Namen eines Häftlings, der in Dachau und einer Versuchsanstalt bei Koblenz interniert war: Wilhelm Sohn, mein Großvater. Er starb, bevor die Deportation nach Auschwitz vollzogen werden konnte – an den Folgen von Experimenten, Unterernährung, Krankheiten, Gewalt.

Diese Akte ist kein rhetorisches Beiwerk, sie ist Grenzmarke. Wer erlebt hat, was totaler Staat, Lagerregime und medizinische Verwaltung der Vernichtung bedeuten, weiß: „Faschismus“ ist kein Allzweckwort für alles, was uns an der Gegenwart missfällt.

Genau dieser Begriff aber ist in den digitalen Debatten um Big Tech in Umlauf geraten – und trifft inzwischen nicht nur milliardenschwere Plattformbetreiber, sondern zunehmend auch deren Nutzerinnen und Nutzer. Wer Twitter/X nicht verlässt, wer „immer noch dort“ ist, landet schnell im moralischen Verdachtsregister. In der Session wurde diese Entwicklung benannt – und als das bezeichnet, was sie ist: Relativierung durch Überdehnung.

Ich pläsiere für ein politisch tragfähigeres Vokabular: Oligarchie, Infrastrukturmacht, privat organisierter Meinungsraum ohne demokratisches Mandat. Das ist präzise genug – und beleidigt keine Toten.

Imperium ohne Staat

Das Bild, das sich über die Diskussion legte, war das des „Plattformkaisers im Technopelz“: ein Unternehmer, der Raketen startet, Elektroautos baut, Satellitennetze ausrollt – und nebenbei eine globale Kommunikationsplattform kauft, sie nach Gutdünken umbaut und als persönliche Experimentierfläche für politische Andeutungen, Kränkungen und Kurswechsel nutzt. pdfVortragGunnarBloggerCamp

Der Widerspruch liegt offen zutage: Öffentlich wird gegen „Parasiten“ gepoltert – gegen jene, die sich angeblich an geschaffenen Infrastrukturen festsaugen. Gleichzeitig hängt das eigene Imperium zu einem beträchtlichen Teil an staatlichen Leitungen: Raumfahrtaufträge, Subventionen, regulatorische Privilegien. Die Figur des selbstermächtigten Tech-Titans steht auf dem Fundament öffentlicher Investitionen, die er im Nachhinein zur Bestätigung eines persönlichen Genie-Mythos umdeutet.

Die Session hat diesen Widerspruch nicht skandalisiert, sondern seziert: Hier entsteht eine Spielart des Imperialismus ohne Staat – oder genauer: ein Privatimperium, das sich der Staatsapparate bedient, ohne sich politisch binden zu lassen. Die demokratische Öffentlichkeit hat diesen Rollentausch lange hingenommen. Der Milliardär wurde zum Symbol technischer Zukunft, der Staat zum Zaungast, der zuschaut, wie auf seinen Infrastrukturen persönliche Reiche errichtet werden.

Die fragile Macht der Giganten

Damit war der Weg frei zur nächsten Verschiebung: Weg von der Empörung, hin zur historischen Perspektive.

Anhand der Ranglisten der „wertvollsten Unternehmen der Welt“ lässt sich die Fragilität dieser Imperien ablesen: Anfang der 1990er Jahre dominieren Telkos, Ölkonzerne, japanische Banken; Mitte der 2000er verschieben sich die Tabellen erneut; um 2020 stehen nahezu ausschließlich Tech-Konzerne und ein Ölmonopolist an der Spitze. Wer die Auswechslungsrate betrachtet, muss zur Kenntnis nehmen: Kaum ein Name hält sich länger als eine Dekade im oberen Feld, Microsoft ist die Ausnahme, nicht die Regel.

In der Session wurde auf ein Szenario für 2035 verwiesen: Wieder andere Konzerne, andere Regionen, andere Technologien. Nicht als Prognose, sondern als Erinnerung daran, dass auch die heutigen Kaiser nur eine Drehung im Karussell der Kapitalmärkte markieren.

Hier setzt Daniel Kahneman ein. Er beschreibt die menschliche Neigung, im Nachhinein aus Erfolgen Geschichten zu bauen: bessere Strategie, klarer Blick, richtige Technologie. Im Absturz folgt die Gegenlegende von Arroganz, Versagen und verpassten Trends. Kahneman nennt das den Sieg der Rückschau über die Statistik: Außergewöhnliche Erfolge sind häufig Ausreißer, die zur Mitte zurückkehren – Glück, Marktphase, Timing, mehr nicht. pdfVortragGunnarBloggerCamp

Die Lektion ist unbequem – gerade für eine Branche, die sich über Narrative verkauft: Vieles von dem, was heute als historisch alternativlos erscheint, wird morgen nur noch Fußnote sein. Imperiale Plattformen sind keine Naturgewalt, sie sind Momentaufnahme.

Zwischen Affen, Analysten und Algorithmen

Kahnemans zweite Zumutung betrifft die Zukunft. In empirischen Vergleichen schneiden Affen, die blind Dartpfeile auf Kurslisten werfen, bei Börsenprognosen oft nicht schlechter ab als professionelle Analysten. Der Unterschied liegt nicht in der Trefferquote, sondern in der Erzählung: Der Experte liefert eine Geschichte, der Affe nicht.

Übertragen auf die Plattformwelt entsteht eine neue Priesterkaste: Deuter des Algorithmus, die im Wochentakt erklären, was der „richtige“ Content sei, welche Länge, welche Uhrzeit, welches Format. Kaum sind die Regeln verstanden, hat die Plattform sie bereits verändert. Das System bleibt volatil, die Deutungshoheit stabil.

Die politische Konsequenz: Wer seine Kommunikationsstrategie ausschließlich an diesen flackernden Vorgaben ausrichtet, übergibt seine publizistische Existenz an ein Rauschen – an eine Konfiguration von Parametern, die er weder kontrolliert noch versteht.

Die BloggerCamp-Session hat diese Asymmetrie deutlich gemacht: Auf der einen Seite die Faszination für Reichweite, Wachstum, Ranking. Auf der anderen Seite die Einsicht, dass genau diese Faszination die Abhängigkeit von privaten Imperien stabilisiert – und damit jene Machtbasis, an der sich die Kritik eigentlich abarbeiten wollte.

Der Parasit als Bürgerrolle

Hier tritt Michel Serres in den Vordergrund. In Der Parasit beschreibt er den Störer als Schlüsselfigur politischer und sozialer Veränderung: biologisch, sozial, kommunikativ. Der Parasit sucht sich einen Wirt, er lebt von dessen Ressourcen – und zwingt ihn gerade dadurch zur Anpassung. Er ist das Rauschen in der Leitung, das Knistern im Radio, die unerwartete Unterbrechung eines scheinbar geschlossenen Systems.

Auf die digitale Gegenwart angewandt, bedeutet das: Wer Plattformen nutzt, ohne sich ihnen auszuliefern, verhält sich parasitär im konstruktiven Sinn. Er akzeptiert die Infrastruktur, aber nicht die Totalität. Er lässt sich finden, ohne sich auf die Logik des Feeds zu reduzieren.

In der Session wurde diese Figur auf Blogs, Newsletter und selbst verwaltete Archive übertragen:
– Texte, die zu lang, zu komplex, zu widersprüchlich für den standardisierten Social-Media-Stream sind.
– Publikationen, die asynchron funktionieren, die nicht im Stakkatotakt des Messengers antworten müssen.
– Eigene Speicher, physisch oder digital, die dem Zugriff wechselnder Plattformbetreiber entzogen sind.

Der Parasit in dieser Lesart ist nicht der Trittbrettfahrer, sondern der Bürger, der sich weigert, seine politische und publizistische Existenz vollständig in die Hände weniger Konzerne zu legen.

Moralische Maximalforderungen und digitale Wirklichkeit

Besonders heikel wurde es, als in der Diskussion die Frage aufkam, ob man sich konsequenterweise von allen problematischen Plattformen zurückziehen müsse: Wer X verlässt, müsste dann nicht auch Meta meiden, Amazon, TikTok, Google, Microsoft? Und was bedeutet das für Institutionen, die nicht nur sich selbst, sondern ein Gemeinwesen repräsentieren – Regierungen, Parlamente, Behörden?

Hier trat eine eigentümliche Zerrissenheit zutage: Der Rückzug aus toxischen Räumen ist psychologisch plausibel und individuell oft notwendig. Politisch jedoch entsteht eine Leerstelle, wenn demokratische Akteure die großen öffentlichen Plätze allein jenen überlassen, die man als Gegner bezeichnet.

Die Session verweigerte sich einfachen Antworten: Weder wurde ein kollektiver Exodus ausgerufen, noch das zynische „Weiter so“ verteidigt. Stattdessen rückte ein anderer Maßstab in den Mittelpunkt: Es reicht nicht, zu zählen, wo man aktiv ist. Entscheidend ist, wo die eigene publizistische Identität verankert wird.

Wer seine Texte, Analysen, Recherchen zuerst im eigenen Haus veröffentlicht und erst danach in fremde Feeds einspeist, verhält sich grundsätzlich anders als jemand, der seine politische Existenz vollständig an den Launen privater Plattformen festmacht.

Blog first

„Blog first, Plattform später“ – so lässt sich die Praxis zusammenfassen, die in der Session beschrieben wurde: Das Blog als Bahnhof, die Plattformen als Bahnsteige, über die die Züge nur kurz rollen. Dieser Satz ist weniger Nostalgie als politisches Programm. pdfVortragGunnarBloggerCamp

Ein solches Selbstverständnis verändert auch den Blick auf Initiativen wie Safe Social oder Fediverse-Projekte: Sie sind wichtig, aber sie sind nicht der Ort, an dem letztgültig entschieden wird, ob eine Gesellschaft ihre Erinnerung, ihre Konflikte, ihre Debatten in privater Hand belässt oder selbst verwaltete Räume behauptet.

Die eigentliche Zumutung der BloggerCamp-Session bestand darin, diese Verantwortung nicht an Regulierer, nicht an Aktivistengruppen, nicht an Tech-Eliten zu delegieren, sondern sie den Schreibenden selbst zuzuschieben: Journalistinnen, Bloggern, Wissenschaftlern, Politikerinnen.

Wer schreibt, entscheidet, wem er sein Gedächtnis anvertraut.

Ein leiser Auftrag an die Politik

Zum Ende der Diskussion rückte noch ein anderer Gedanke ins Zentrum: Die Bundeskanzler, Minister und Parteivorsitzenden dieser Republik verfügen fast alle über professionell gepflegte Social-Media-Kanäle. Was vielen von ihnen fehlt, ist etwas viel Einfacheres: ein eigener publizistischer Ort. Ein Blog, ein Archiv, ein Raum, in dem politische Texte zuerst erscheinen – und erst anschließend kopiert, zitiert, geteilt werden.

Es ist kein Zufall, dass dieser Gedanke auf einem BloggerCamp formuliert wurde, einem Treffen von Menschen, die seit Jahrzehnten digitale Öffentlichkeit nicht als Dienstleistung, sondern als eigene Arbeit begreifen.

Wenn man eine Lehre aus dieser Session ziehen will, dann vielleicht diese:
Die großen Plattformimperien sind fragiler, als sie erscheinen. Ihre Macht speist sich nicht zuletzt aus der Bequemlichkeit jener, die sich von ihnen tragen lassen. Wer publiziert – ob als Privatperson oder als staatliche Institution –, hat die Wahl: Wirt werden, der sich ausliefern lässt. Oder Parasit im besten Sinn, der die Infrastruktur nutzt, ohne die eigene Souveränität preiszugeben.

Im Jahr 2040 wird kaum noch jemand darüber sprechen, welche Nutzerzahlen X im Winter 2025 hatte. Aber es wird – im besten Fall – noch Texte geben, Akten, Blogs, Archive, in denen nachzulesen ist, wie wir über Öffentlichkeit, Macht und Verantwortung gesprochen haben.

Ob diese Dokumente dann auf Servern privater Imperien liegen oder in Räumen, die wir selbst kontrollieren – das ist keine technische, sondern eine politische Frage.

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