
Der Satz, der nicht für uns gedacht war
In einem Online-Artikel des SPIEGEL zur politischen Lage in Polen war plötzlich ein Satz zu lesen, der dort nie hätte erscheinen dürfen. „Wenn du magst, passe ich Ton und Detailtiefe (z. B. nüchterner Nachrichtenstil vs. magaziniger) […]“ – ein klassischer Redaktionskommentar, formuliert von einer KI, gerichtet an einen Redakteur, nicht an die Öffentlichkeit. Doch der Satz blieb stehen. Wurde veröffentlicht. Gelesen. Dokumentiert.
Die anschließende „Anmerkung der Redaktion“ sprach von einem „produktionstechnischen Fehler“. Man habe ein KI-Tool genutzt, das „gelegentlich zur Überprüfung unserer eigenen Texte“ eingesetzt werde. Ein Hinweis, versehentlich stehen geblieben. Mehr nicht.
Aber das stimmt so nicht. Oder besser gesagt: Es greift viel zu kurz. Denn dieser eine maschinell erzeugte Satz zeigt etwas Fundamentales. Er dokumentiert nicht nur den Einsatz generativer KI in redaktionellen Workflows. Er zeigt, wie selbstverständlich, wie tief integriert und wie unreflektiert diese Systeme inzwischen sind. Und dass die „Verifizierung durch einen Menschen“ offenbar kein letzter Filter mehr ist – zumindest nicht immer.
Knüwers Rückzugsszenario
In diese Gemengelage platziert Thomas Knüwer seine medienpolitische Kritik. Leserinnen und Leser hätten vom KI-Einsatz im Journalismus keinen Nutzen. Im Gegenteil: Sie assoziierten ihn mit Stellenabbau, Beliebigkeit, Intransparenz. Seine These: Es werde zu einer aktiven Verweigerung kommen – einem „LuddAIsmus“. Die Reaktion der Verlage müsse daher sein, sich durch ein „KI-frei“-Siegel zu profilieren. Vertrauen zurückgewinnen durch Verzicht.
Das Problem an dieser Argumentation ist nicht ihre Sensibilität. Sondern ihre Unterschätzung dessen, was gerade wirklich passiert.
Agentensysteme: Mehr als nur Schreibhilfe
Markus Herkersdorf, CEO des Simulationsunternehmens TriCAT, formulierte es auf der diesjährigen „Zukunft Personal Europe“ in Köln so: „Wir sprechen nicht mehr von einem einzelnen Bot. Wir sprechen von Systemen – von Dutzenden, teils Hunderten KI-Agenten im Hintergrund, die Aufgaben bearbeiten, kommunizieren, Vorschläge machen, Entscheidungen vorbereiten.“ Der Mensch arbeite künftig nicht mehr nur mit einem digitalen Werkzeug, sondern in einem Tandem – mit einem permanent aktiven, lernenden und kontextualisierenden Agentensystem.
Diese Systeme denken weiter. Herkersdorf berichtet von einem Fall, in dem eine KI nicht nur einen Artikel stilistisch überarbeitete, sondern ihm proaktiv vorschlug, das fertige Stück einem bestimmten Magazin anzubieten – ein Vorschlag, der angenommen und veröffentlicht wurde. Die Maschine denkt also nicht nur innerhalb der ihr zugewiesenen Aufgabe. Sie erweitert den Handlungskontext.
Genau darin liegt der Umbruch: KI wird nicht nur schneller, sondern initiativefähig. Sie erkennt Muster, sie antizipiert Handlungsmöglichkeiten, sie ergänzt Zusammenhänge. „Das ist nicht Polishing. Das ist strategische Mitwirkung,“ so Herkersdorf.
Was die Metastudie über Effizienz und Qualität sagt
Der Think Tank „Innovation der Zukunft Personal“ hat in seiner Metastudie (2025) über 60 relevante Forschungsarbeiten ausgewertet und kommt zu einem klaren Befund: Mensch-KI-Tandems schlagen fast durchweg reine Menschenteams in Output, Qualität und Reaktionszeit. Besonders deutlich wird das bei Einzelpersonen, die mit einem gut trainierten Agentensystem zusammenarbeiten – sie sind oft besser als ganze Abteilungen in klassischen Organisationen .
Dabei geht es längst nicht mehr nur um Textverarbeitung oder Automatisierung. In Anwendungsfeldern wie Krisenfrüherkennung, Markt-Monitoring oder Echtzeit-Stimmungsanalyse (etwa durch Sentiment-KI) liegen solche Systeme deutlich vor klassischen Methoden wie Umfragen oder händischer Analyse. Die KI trifft nicht nur – sie trifft früh.
Das bedeutet: Wer journalistisch, publizistisch oder strategisch führen will, muss auf diese Systeme zugreifen können. Der Verzicht auf KI ist kein ethisches Gütesiegel. Er ist eine operative Schwächung.
Das Elite-Problem von Salem
Besonders eindrücklich wird das bei der Frage der Bildungsgerechtigkeit. Herkersdorf verweist auf ein Beispiel aus dem deutschen Internat Salem: Dort ist der Einsatz KI-gestützter Lern- und Produktionssysteme längst Alltag. Lernkörper, KI-Begleiter, 24/7-Coaches. Wer dort aufwächst, hat Zugang zur technologischen Avantgarde. Und der Rest?
„Wenn ich in Ulm lebe oder in Neukölln zur Schule gehe, fehlt dieser Zugang oft komplett,“ sagt Herkersdorf. „So entsteht eine neue Zwei-Klassen-Dynamik: Wer KI versteht und zu nutzen weiß, hat strukturelle Vorteile – in Schule, Beruf, Gesellschaft.“
Der „KI-freie“ Raum wird hier zur Zone der Exklusion. Nicht zur sicheren Alternative.
KI-frei ist kein Fortschritt
Der SPIEGEL hat mit einem einzigen Satz unbeabsichtigt gezeigt, wie weit die maschinelle Beteiligung an redaktionellen Prozessen inzwischen reicht. Der peinliche Fehler war nicht der Einsatz von KI. Der Fehler war, dass niemand mehr bemerkte, dass hier ein System für einen Menschen sprach.
Die Lösung ist nicht der Verzicht. Die Lösung ist die souveräne Integration. Wer Vertrauen erhalten will, muss KI sichtbar, nachvollziehbar und redaktionell verantwortet einsetzen – nicht heimlich, nicht beschönigend, aber auch nicht im Selbstverbot.
Denn im Tandem mit einem Agentensystem kann eine Einzelperson heute Dinge leisten, für die gestern noch ganze Redaktionen notwendig waren. Und wer dieses Potenzial freiwillig ausschlägt, wird den Wettbewerb nicht nur verlieren – er wird ihn bald nicht mehr verstehen.