
Kneipenlicht, Automatenblinken, ein Lied als Selbstentblößung
Gedeon Winter sitzt in dieser Kneipe, als hätte man ihn dort abgestellt, weil es für Menschen seiner Sorte keinen besseren Ort gibt als den Rand: warm genug, um nicht zu erfrieren, unerquicklich genug, um nicht sentimental zu werden. Nicholas Ofczarek gibt ihm jene erschöpfte Genauigkeit, die nicht gespielt aussieht, sondern gelebt. Dann singt er Wolfgang Ambros: „E Kinettn wo i schlof“.
Es ist kein Singen, das glänzen will. Es ist ein Lautwerden, weil das Schweigen zu viel Raum bekommt. Das Mitsingen im Raum stört den alten Grantler am Glücksspielautomaten. Er schimpft, als verteidigte er sein Blinken gegen die menschliche Nähe, die ihm gefährlicher ist als jede Niederlage. Sein Zorn ist nicht moralisch, er ist instinktiv: Wer lange genug nur auf das mechanische Klicken hört, empfindet jedes Lied als Übergriff.
In dieser kleinen Szene ist Winters ganzes Wesen enthalten: heruntergekommen, zynisch, ein Mann, der aus Erfahrungen besteht, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Und doch, für eine Strophe lang, ist er nicht Kommissar, nicht Fallbearbeiter, nicht Funktion – sondern nur ein Körper, der die Melodie braucht, um überhaupt noch einen Zusammenhang zwischen gestern und heute zu behaupten.
West-Berlin, Abgang vor der Stunde Null
Ich verließ West-Berlin Anfang 1989. Es war keine Flucht und keine Befreiung, eher ein Abtreten von einer Bühne, deren Licht man so gewohnt war, dass einem das Dunklere später wie Strafe vorkam. West-Berlin hatte das Talent, selbst der Verlorenheit ein Publikum zu geben. Man konnte scheitern und es klang noch nach Haltung.
Bonn war danach eine andere Welt: leiser, ordentlicher, eine Stadt, die die Dinge nicht ausstellt. Und gerade deshalb konnte man in Bonn jahrelang „leben“, ohne zu merken, dass man vor allem funktionierte. Man wird nicht plötzlich unglücklich; man wird zunächst nur korrekt.
Feuerwerk: Die neue Liebe als Ereignis ohne Bremsweg
Nach Scheidung und Rosenkrieg kam diese neue Liebe – und sie war kein vorsichtiges Einrichten, kein therapeutischer Fortschritt, kein „es tut gut, wieder zu vertrauen“. Sie war ein Feuerwerk. So eine Liebe, die nicht fragt, ob sie darf, sondern einfach passiert. Der Körper glaubt wieder, bevor der Kopf nachkommt. Die Welt wirkt auf einmal näher, schneller, leuchtender. Man redet nicht über Zukunft, man steht schon in ihr.
Vielleicht ist es das Gefährliche an solchen Glücksfällen: Sie wirken wie eine endgültige Antwort. Man hat das Gefühl, das Leben habe sich entschieden, endlich großzügig zu sein. Man beginnt, sich selbst wieder zu glauben.
Blitz: Der Tod als Sekundenereignis
Und dann – ohne Dramaturgie, ohne Vorwarnung, ohne Übergang – schlägt der Tod ein. Ein Sekundenereignis. Wie ein Blitz: nicht weil es „schnell“ ist, sondern weil es die Welt augenblicklich neu ordnet. Vorher und nachher. Ein Satz, den man nie mehr sagen kann. Ein Blick, der nicht mehr zurückkommt.
Das Unfassbare ist nicht nur der Moment selbst, sondern die Art, wie er alles kontaminiert, was danach kommt. Jeder Ton, jedes Licht, jedes Geräusch wird plötzlich Beweismaterial dafür, dass die Person fehlt. Und die Umgebung, die eben noch Bühne des Glücks war, wird zur Kulisse eines Fehlens, das sich nicht einrichten lässt.
Paralyse: Jahre im Stillstand, der nicht still ist
Die Paralyse ist kein romantischer Stillstand. Sie ist Tätigkeit ohne Sinn. Man macht Dinge und merkt, dass man nicht darin wohnt. Man spricht und hört sich selbst wie aus einem Nebenzimmer. Man sitzt in Räumen, die man kennt, und sie wirken fremd, als hätte jemand die Beschriftungen an den Türen vertauscht.
Man kann in dieser Zeit erstaunlich zuverlässig sein. Man kann Termine einhalten, höflich grüßen, Rechnungen bezahlen. Das ist der Skandal der Trauer: Sie zerstört einen nicht unbedingt äußerlich (zum Teil schon). Sie zerstört einen innerlich so gründlich, dass sogar das Überleben wie Betrug wirken kann.
Und über Jahre lernt man eine neue, unangenehme Kunst: mit dem eigenen Leben zu leben, ohne den Menschen, der es einmal bewohnt hat.
Schritt für Schritt: Wieder ins Leben kommen, wieder funktionieren
Irgendwann beginnt etwas Kleines. Nicht Mut. Nicht „Heilung“. Eher eine unmerkliche Verschiebung: Man hält einen Schmerz aus, ohne sofort umzukippen. Man lacht einmal, und das Lachen klingt nicht wie Verrat. Man geht irgendwohin, ohne vorher zu überlegen, ob man es „darf“. Man wacht auf und denkt für einen Sekundenbruchteil nicht an den Verlust – und erschrickt dann darüber, aber man stirbt noch nicht daran.
Schritt für Schritt kommt man zurück. Nicht an denselben Ort, nicht in dasselbe Leben, sondern in eine neue Version von Alltag. Man wird wieder funktionstüchtig. Funktionieren – dieses nüchterne Wort – ist plötzlich ein Triumph, weil man weiß, wie viele Tage es gekostet hat, überhaupt wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Jack Black: Die Figur, die den Auftritt riskiert
Darum trifft mich High Fidelity so sehr im Schluss. Rob, der Held, lebt lange in Listen und Rückblicken, in der intellektuellen Selbstumkreisung eines Menschen, der lieber analysiert als teilnimmt. Und dann steht da Jack Black, diese Figur, die zunächst wie reiner Krach wirkt: zu laut, zu forsch, zu überdreht. Man hält ihn für eine Nebenfigur, und dann führt der Film ihn ins Licht, gibt ihm den Moment, in dem Pose zur Existenz wird.
Der überraschende Bühnenauftritt ist nicht nur Komik. Er ist eine Behauptung: Ich bin da, ich kann das, ich riskiere mich. Und im Musikclub am Schluss – diesem versöhnlichen Ort, der keine Therapie ist, sondern Öffentlichkeit – passiert etwas Entscheidendes: Das Leben wird wieder gemeinschaftsfähig. Nicht perfekt, nicht geheilt. Aber anwesend.
Der Club ist das Gegenteil der Paralyse. Er verlangt nicht Erklärung, sondern Präsenz. Man muss nicht recht haben, man muss nur da sein. Spielen. Zuhören. Und genau darin liegt eine Wahrheit, die sich nicht moralisch aussprechen lässt: Man kann beschädigt sein und trotzdem teilnehmen.
„Verdamp lang her“: Die Zeit als Rechnung, die man nicht verweigern kann
BAPs „Verdamp lang her“ bleibt die dunklere Schwester dieser Erkenntnis. Es ist Bilanz ohne Sentimentalität: wie viel man geglaubt hat, wie wenig man wusste, wie schnell die Zeit aus einem jungen Menschen einen erfahrenen macht – und wie sehr Erfahrung nach Verlust schmeckt. Man hört es live und merkt: Das ist keine Erinnerung an früher, das ist ein Bericht aus dem Heute, in dem „früher“ nur noch Material ist.
Fassade und Luft
Man sagt gern „Stehaufmännchen“. Aber das klingt zu sauber. In Wahrheit ist es oft ein Zusammenbauen aus Einzelteilen: morgens aufstehen, Kaffee, Schuhe, Straße, Menschen. Eine Maskerade, ja – doch nicht Täuschung, eher Konstruktion. Man baut sich wieder eine Person, die im Alltag bestehen kann.
Und manchmal, wenn Ofczarek in der Kneipe singt und der Grantler am Automaten schimpft, wenn Jack Blacks Figur im Club das Licht nimmt, als gehöre es ihm, wenn BAP „Verdamp lang her“ sagt, als wäre es ein Urteil, dann öffnet sich in dieser Konstruktion ein Spalt.
Nicht für Erlösung. Dafür wäre das Leben zu knapp und zu unerbittlich.
Aber für Luft. Und Luft ist, nach einem Blitz und Jahren Paralyse, bereits eine Art Wiedergeburt.