Es gibt Begriffe, die man nicht leichtfertig benutzen sollte: Faschismus gehört dazu. In den Kommentarspalten der Tech-Debatte fällt das Wort inzwischen erstaunlich schnell: faschistische Tech-Oligarchen im Silicon Valley, faschistoide Plattformregime, digitale Lagerlogik. Es klingt radikal, es wirkt engagiert – und verfehlt doch das Wesentliche.
Was Faschismus wirklich bedeutet, steht in der Krankenakte meines Großvaters Wilhelm Sohn. Er kam ins Konzentrationslager Dachau, ein Vernichtungsort, nicht eine Metapher. In seiner Patientenakte taucht die Diagnose Taboparalyse auf – eine Spätfolge der Syphilis, die zu schweren neurologischen Schäden, Koordinationsstörungen, Schmerzen und schließlich Lähmung führt. Ausgestellt von einem Nazi-Arzt, um die Deportation meines Großvater in eine Versuchsanstalt in der Nähe von Koblenz vorzubereiten.
Die Verbindung zu Dachau ist kein medizinischer Zufall, sondern politischer Kontext: Häftlinge wurden dort für „Experimente“ missbraucht – Höhen- und Kälteversuche, Malaria, Medikamententests. Krankheiten wurden herbeigeführt oder bewusst nicht behandelt, um Verläufe zu studieren. Unterernährung, Typhus, systematische Gewalt erledigten den Rest.
Das ist Faschismus: die kalkulierte Vernichtung von Menschen, administriert, dokumentiert, medizinisch gerahmt. Wer heute jedes aggressive Geschäftsmodell, jede zynische Plattformentscheidung mit demselben Wort belegt, betreibt eine Form von sprachlichem Relativismus, die gerade in digitalen Milieus gern als moralische Schärfe verkauft wird.
Es gibt andere Begriffe für das, was die Tech-Industrie treibt: Oligarchie, Infrastrukturmacht, imperiales Geschäftsmodell. Sie sind nüchterner – und vielleicht deshalb politisch brauchbarer.
Der Plattformkaiser im Technopelz
Stellen wir uns eine Figur vor, die viele vor Augen haben, wenn sie an das Plattformzeitalter denken: einen Plattformkaiser im Technopelz. Ein Mann, der Raketen baut, Elektroautos, Satellitennetze; der ein soziales Netzwerk kauft, es zerlegt, neu zusammensetzt, dabei permanent provoziert und sich als radikaler Störenfried inszeniert.
Und dann erklärt ausgerechnet diese Figur der Welt den Begriff „Parasit“. Der Parasit, so die Botschaft, sei der, der sich festsetze, ohne zu erobern – der Schmarotzer, der mitnimmt, statt zu schaffen. Auf der einen Seite die heroischen Unternehmer, auf der anderen die angeblich abhängigen Gesellschaften, Medien, „Eliten“.
Ironisch daran ist weniger die Selbstmythologisierung als der ökonomische Unterbau: Ein erheblicher Teil dieses Imperiums lebt von Infrastrukturen, die andere bezahlt haben – staatliche Raumfahrtprogramme, Subventionen, regulatorische Rücksichtnahmen. Der Mann, der andere Parasiten nennt, hängt selbst tief in öffentlichen Leitungen.
Genau an dieser Stelle lohnt es, den Begriff umzudrehen – nicht als moralische Keule, sondern als analytisches Werkzeug.
Imperien rotieren – die Top-10 als Memento Mori
Bevor wir über Parasiten reden, lohnt ein Blick auf die Wirte. Wenn man sich anschaut, welche Unternehmen in den vergangenen Jahrzehnten den Status „wertvollste Firma der Welt“ erreicht haben, zeigt sich eine merkwürdig beruhigende Grausamkeit der Märkte.
Anfang der 1990er Jahre stehen Namen wie NTT, IBM, Exxon, Industrial Bank of Japan, Sumitomo Bank an der Spitze – Telekommunikation, Öl, Großbanken. Mitte der 2000er tauchen andere Ölkonzerne auf, neue Finanzriesen, erste Tech-Giganten. Um 2020 dominieren Microsoft, Apple, Alphabet, Amazon und Saudi Aramco die Rankingtabellen.
Es ist nicht nur eine Verschiebung der Logos, sondern ein Rotationssystem: Etwa alle zehn bis fünfzehn Jahre tauscht sich ein Großteil der Topliste aus. Man darf mit einiger Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass 2035 andere Unternehmen die Spitzenplätze halten – vielleicht Konzerne aus Indien, Afrika oder Lateinamerika, vielleicht Firmen, die Kreislaufwirtschaft oder alternative Proteine industrialisiert haben.
Die Botschaft ist brutaler als jede Kampagne gegen Big Tech: Imperien kommen und gehen. Die Konstante ist nicht das Unternehmen, sondern die Rotation.
Vor diesem Hintergrund wirkt die öffentliche Debatte merkwürdig kurzsichtig. Sie fragt: Wie überleben wir X? Wie umgehen mit dieser einen Plattform, diesem einen CEO, dieser einen App? Die politisch interessantere Frage lautet:
Welche Publikationen – welche Form von Öffentlichkeit – überleben die nächste Top-10-Rotation?
Kahneman und der Mythos vom planbaren Erfolg
Damit sind wir bei einem Mann, der selten auf Tech-Konferenzen zitiert wird, aber dringend dorthin gehört: Daniel Kahneman.
Kahneman, der erste Nicht-Ökonom mit Wirtschaftsnobelpreis, hat sein Leben damit verbracht, unsere Denkfehler zu vermessen. Einer seiner hartnäckigsten Gegner ist die menschliche Lust an der Erfolgsgeschichte.
Steht ein Unternehmen an der Spitze, entstehen zuverlässig Narrative: Es habe die bessere Strategie, den Markt verstanden, konsequent auf die richtigen Technologien gesetzt. Bricht der Erfolg ein, werden die Erzählungen umetikettiert: Arroganz, verpasste Trends, mangelnde Anpassungsfähigkeit.
Kahneman hält dagegen: Ein erheblicher Teil dessen, was im Rückblick wie eine klare Kette von Ursache und Wirkung aussieht, ist das Produkt von Zufall, Glück, Marktphase – zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
Sein Instrument dafür ist die Regression zum Mittelwert: Außergewöhnliche Erfolge sind oft statistische Ausreißer, die im nächsten Schritt wieder in die Normalität zurückfallen. Der Golfer, der am ersten Tag ein Traumturnier spielt, wird am zweiten Tag mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder durchschnittlicher. Nicht, weil er schlechter geworden ist, sondern weil das Glück nicht linear weiterläuft.
Für Schlagzeilen taugt diese Einsicht nicht. „Er hatte einfach sehr viel Glück“ verkauft sich schlechter als „Er zeigte Nerven“ oder „Er ist kein Siegertyp“.
Das gilt auch im Großen. Kahneman verweist auf Management-Bestseller, die aus dem Vergleich erfolgreicher und weniger erfolgreicher Firmen hochkonsistente Muster ableiten – etwa „Immer erfolgreich“ von Jim Collins und Jerry I. Porras. Sein Kommentar ist trocken:
Wer den Einfluss von Zufall ernst nimmt, sollte misstrauisch werden, wenn aus solchen Vergleichen scheinbar eindeutige Erfolgsformeln destilliert werden. Wo der Zufall seine Hand im Spiel hat, sind regelmäßige Muster häufig Illusion.
Überträgt man diese Skepsis auf die Tech-Branche, bekommt die Faszination für Plattformimperien einen Riss. Vielleicht sind manche Konzerne weniger naturgesetzlich überlegen, als ihre Fans glauben. Vielleicht ist ein Teil des Erfolgs – und des Niedergangs – banaler, als es die Storytelling-Maschine der Branche zugibt.
Affen mit Dartpfeilen und Algorithmus-Priester
Kahneman wäre vermutlich der Letzte, der sich von der Tech-Industrie mit „Growth Hacks“ beeindrucken ließe. Er hat gemeinsam mit anderen erforscht, wie gut Experten Zukunft tatsächlich vorhersagen können. Das Ergebnis ist für Prognose-Geschäftsmodelle niederschmetternd: In vielen Feldern, von der Börse bis zur Politik, schneiden Affen, die Dartpfeile auf eine Zielscheibe werfen, im Durchschnitt nicht schlechter ab als bestens informierte Profis.
Die Affen sind ein Bild, aber die Botschaft ist ernst: Selbst hochqualifizierte Menschen überschätzen ihre Fähigkeit, Entwicklungen zu antizipieren. Sie sind sehr gut darin, im Nachhinein elegante Erklärungen zu produzieren – und sehr schlecht darin, im Voraus die richtigen zu treffen.
In der Plattformökonomie hat sich aus dieser Konstellation eine eigentümliche Priesterkaste herausgebildet: Algorithmus-Erklärer, die im Wochentakt verkünden, warum Plattform X plötzlich nur noch Drei-Sekunden-Reels akzeptiert, warum Posts zwischen 8:03 Uhr und 8:17 Uhr die höchste Reichweite erzielen oder warum Karussell-Beiträge grundsätzlich „besser performen“ als nüchterne Textlinks.
Die Regeln ändern sich ständig. Die Souveränität der Vorhersagen bleibt erstaunlich stabil.
Aus Kahnemans Perspektive sind viele dieser Rezepte nichts anderes als nachträgliche Ordnungserzählungen über Rauschen. Ein Teil mag empirisch stimmen, ein Teil ist Zufall, ein Teil schlicht Marketing. Die politische Pointe liegt nicht in der Häme gegenüber Social-Media-Beratern, sondern in der Konsequenz:
Wir jagen der jeweils neuesten Plattformlogik hinterher – und übersehen dabei, dass die Plattform selbst nur eine historische Episode ist.
Öffentlichkeit oder Feed? Die eigentliche Systemfrage
Damit rückt die Politik dorthin, wo sie in der digitalen Debatte zu selten vorkommt: nicht als regulatorischer Nachhutdienst hinter Tech-Skandalen, sondern als Frage nach der Architektur unserer Öffentlichkeit.
Wenn man Kahneman ernst nimmt, ist die Zukunft der Plattformen nicht verlässlich planbar. Genau deshalb sollte man sich nicht mit ihr identifizieren. Die sinnvollere Unterscheidung lautet: Was gehört uns – und was gehört den Imperien?
Wo liegen Texte, Recherchen, Analysen, wenn die aktuelle Plattform verkauft, zerschlagen oder schlicht irrelevant geworden ist? Wie zugänglich sind sie, wenn der nächste „Mega-Dienst“ auftaucht? In welcher Form sind sie lesbar, wenn der Kontext sich verändert hat?
Diese Fragen führen konsequent weg vom reinen Feed hin zu Formen, die heute altmodisch wirken: Blogs, Newsletter, eigene Archive, bis hin zu gedruckten oder lokal gespeicherten Sammlungen. Nicht aus Nostalgie, sondern aus institutioneller Vernunft.
Michel Serres und der Parasit als Schlüsselfigur
An diesem Punkt betritt ein zweiter, ebenfalls eher randständig zitierter Denker die Bühne: Michel Serres. In seinem Buch „Der Parasit“ entwickelt er eine Figur, die auf den ersten Blick nicht nach digitaler Infrastruktur aussieht und doch erstaunlich gut zu ihr passt.
Der Parasit ist bei Serres zunächst ein biologisches Phänomen: ein Organismus, der sich einen Wirt sucht, sich einnistet, mitisst, mitlebt. Dann ein sozialer Typus: der Gast, der am Tisch sitzt, ohne zu kochen, eine bekannte Figur höfischer Gesellschaften. Und schließlich ein Störgeräusch: das Knistern in der Leitung, das Rauschen im Radio, die Unterbrechung eines Gesprächs.
Serres’ Pointe ist radikal: Macht braucht Stille. Sie braucht glatte Kanäle, klare Signale, eine ungestörte Verbindung zwischen Sender und Empfänger. Der Parasit bringt Rauschen. Er bricht Abläufe, mischt sich ein, stört die Ordnung der Kommunikation.
Wichtig ist: Serres versteht den Parasiten nicht moralisch, sondern dynamisch. Systeme ohne Parasiten, ohne Störungen, ohne Reibung – das sind tote Systeme. Parasitismus ist, in seiner Lesart, die Art, wie das Neue in das Alte eindringt.
Von alten Medien zu neuen Wirten
Überträgt man diese Figur auf Medien, entsteht eine verblüffende Lesart der vergangenen Jahrzehnte. Die klassischen Massenmedien waren lange Zeit der dominante Wirt. Frühe Blogs und Foren wirkten wie Parasiten: Sie störten Deutungsmonopole, widersprachen, ergänzten, bauten Nebenöffentlichkeiten.
Heute sind es die Plattformkonzerne, die den Wirt geben. Sie haben einen erheblichen Teil der Informationsströme an sich gezogen, alte redaktionelle Strukturen absorbiert und darüber eine globale, zentralisierte Aufmerksamkeitsökonomie gelegt.
Die naheliegende Reaktion wäre: Rückzug in „alternative“ Netze, etwa das Fediverse. Doch auch dort entsteht – wie in jedem sozialen Raum – eine eigene Topographie von Macht und Moral, von impliziten Regeln und Ausschlüssen. Wer Kritik übt, hört schnell Sätze wie: „Du hast das nicht verstanden“, „Mach dir deine eigene Instanz“, „Kritik ist okay, aber nicht so“, „Wir sind auf alternative Weise toxisch“.
Für Serres ist das keine Überraschung, sondern Bestätigung seiner These: Es gibt keinen Kommunikationsraum ohne Parasiten, keine konfliktfreie Utopie. Entscheidend ist, ob und wo wir Zonen behalten, in denen wir unsere eigenen Regeln setzen können.
Der parasitäre Blog als Störung im Maschinenraum
Damit sind wir wieder bei einer vermeintlich altmodischen Form, die in Tech-Debatten gern als Nostalgie abgetan wird: dem eigenen Blog, dem Newsletter, dem selbstverwalteten Archiv. In der Logik der Plattformimperien wirken sie wie Relikte; in der Logik von Kahneman und Serres sind sie möglicherweise die robustesten politischen Instrumente, die wir haben.
Ein Blog, ernst genommen, ist nicht einfach ein weiterer „Content-Kanal“, sondern eine Störung im System: Er eignet sich schlecht für die Echtzeitlogik der Feeds, setzt auf Länge, Kontext, Erinnerung. Er widerspricht der Erzählung, dass Relevanz sich ausschließlich in Sekundenbruchteilen und Swipe-Gesten bemisst. Er schafft Archive, in denen sich Debatten jenseits der Timeline rekonstruieren lassen – eine Voraussetzung für jede ernsthafte Öffentlichkeit.
Blogs, Newsletter, unabhängige Publikationen können parasitär an den Plattformen hängen: Sie nutzen deren Reichweite, ohne sich ihr auszuliefern. Links werden platziert, Ausschnitte gestreut, Diskussionen angestoßen – aber das Zentrum bleibt woanders, auf eigener Infrastruktur.
Politisch entscheidend ist nicht, ob jemand einen Account bei X, TikTok oder Instagram hat, sondern ob seine publizistische Existenz vollständig von diesen Konten abhängt. Wer heute mit moralischer Emphase zum Boykott von X aufruft, gleichzeitig aber seine gesamte Arbeit über andere Konzerne distribuiert, verlagert das Problem nur – er löst es nicht.
Ein Playbook für parasitäres Publizieren
Aus der Verbindung von Kahnemans Skepsis und Serres’ Parasitentheorie ergibt sich eine nüchterne Anleitung zur digitalen Selbstbehauptung.
Erstens: Publikationen brauchen ein eigenes Haus. Alles, was eine Gesellschaft in zehn oder zwanzig Jahren noch verstehen soll, gehört auf Server, auf die nicht morgen ein Plattformvorstand durch AGB-Änderung zugreifen kann.
Zweitens: Archive statt reiner Feeds. Wer seine Arbeit ausschließlich in Timelines einschreibt, akzeptiert deren Amnesie. Wer stattdessen ordnet, verschlagwortet, zugänglich hält, baut eine Art privat betriebenes Gedächtnis der Gegenwart.
Drittens: Plattformen parasitär nutzen. Die Imperien stellen Infrastruktur bereit – Verbreitung, Hosting, Sichtbarkeit. Man kann das nutzen, ohne es mit Loyalität zu verwechseln. Die Hauptsache steht zuerst im eigenen Raum; die Plattformen bekommen Ausschnitte, nicht das Ganze.
Viertens: Gelassener Umgang mit Hypes. Kahnemans Affen mit Dartpfeilen sind ein gutes Gegenmittel gegen die nächste algorithmische Offenbarung. Nicht jeder Reichweiteneinbruch ist Krise, nicht jede neue Funktion Überlebensfrage.
Fünftens: Gemeinschaft statt bloßer Fan-Blase. Wichtiger als Followerzahlen sind stabile Verbindungen: Mailadressen, RSS-Feeds, alternative Kanäle. Menschen, die einem Denken folgen – nicht nur einem Profilbild.
Wenn der Kaiser „Parasit“ ruft
Wenn der Plattformkaiser im Technopelz also wieder einmal „Parasit“ ruft, spricht aus ihm nicht die Diagnose, sondern die Furcht: vor Störungen, vor Rauschen, vor Räumen, die sich seiner Kontrolle entziehen.
Die entscheidende politische Frage lautet dann nicht: Wie überleben wir Elon Musk? Sie lautet:
Welche Publikation von uns lebt noch, wenn wir 2035 auf die Reste der heutigen Tech-Giganten blicken?
Wer darauf eine gute Antwort hat – technisch, organisatorisch, publizistisch –, hat mehr für die demokratische Öffentlichkeit getan als mit der zehnten Kampagne gegen die App des Monats.