
Ein Hotel als Resonanzraum
So beginnt es: nicht mit einem Paukenschlag, sondern mit einem Flüstern. Im Proberaum eines verlassenen Hotels in Südkärnten an der Grenze zu Slowenien murmelt ein Schauspieler immer wieder den Satz „and are who what“. Erst als er den Satz fast unsichtbar gemacht hat, antwortet ihm das leere Gebäude. Das Hotel verwandelt sich in De Crescend O – vom „wachsenden Nichts“, wie der Erzähler sagt – und schenkt ihm einen anderen Anfang: „In einen hellen Wald“. Dieser Wald leuchtet, weil die Stille das Wort „das“ in Trauer verwandelt und weil das Haus dem Schauspieler seine eigene Stimme zurückspiegelt. Das Probenhotel wird zum Resonanzraum, in dem Wörter wie Glaswände sind und der Name des Hotels rückwärts gelesen „O let oh sad“ ergibt – ein englisches „Lass doch Trauer zu“.
Solche interlingualen Spiele und Echos prägen Peter Waterhouse’ dreibändigen Roman Z Ypsilon X. Im Gespräch während der Lesung bezeichnete ein Zuhörer das Werk als „Rotationsroman“ – zu Recht. Es ist kein linearer Plot, sondern ein kreisendes Bergwerk der Sprache. Der Autor liest selbst in seinem „roten Buch“ (Dickens’ David Copperfield) und schreibt ein zweites, in dem Sätze nicht festliegen, sondern sich rückwärts ent- und wieder entstehend. Die Figuren – der Wanderschauspieler, der Großvater, Miss Dartle aus Copperfield – tanzten bei der Lesung durch Zeiten und Sprachen.
Von der Rolle des Autors zum leisen Leser
Peter Waterhouse begann den Abend mit einer fast koketten Selbstverleugnung. Er bedankte sich bei der Buchhandlung Böttger und erläuterte, wie sehr sein Werk aus der Zusammenarbeit mit Buchhändlern entstanden sei: ohne ein, zwei engagierte Buchhandlungen in Wien hätte es Z Ypsilon X nicht gegeben. Dann die bescheidene Bemerkung: „Ich bin nicht mehr der Autor dieses Buches … Ich kann mich diesem Buch jetzt nur noch als Leser nähern“. Der Romancier wird zum Leser seiner eigenen Seiten, zum Reisenden durch ein fremdes Gebirge aus Wörtern, in dem er sich immer wieder verirrt und wiederfindet.
Der Autor‑Leser führt sein Publikum durch eine litaneiartige Aufzählung von Dingen, die im Buch vorkommen (Hotel, Tropau, Mond, Kindergarten….) und solchen, die fehlen (Aprikosen, Ameisen, Großbritannien). Zwischen diese Inventare setzt er Begriffe wie Urteilskraft – ein Wort, das im Roman nicht vorkommt, aber im Gespräch ausgiebig verhandelt wird. Hannah Arendt und Immanuel Kant seien ihm Impulsgeber, erläutert Waterhouse; Urteilskraft bedeute, eine Fähigkeit zu entwickeln, „etwas zu beurteilen, für das man noch keine Kriterien hat“. Daran knüpft sich die radikale Offenheit seines Schreibens: man muss vor dem Text sich von den Worten überraschen lassen.
Urteilskraft und Rotation
Die Zuhörer fragten, wie man ein solches Werk „kennen“ könne. Waterhouse antwortete, dass es weniger ums Wissen gehe. Ein Besucher beschrieb sein Erlebnis während der Lesung als eine beständige Drehung: der Text rotiere, als würde er tief ins Bergwerk der Sprache hinabsteigen. Waterhouse reflektierte, dass er sich beim Schreiben tatsächlich im Kreis gedreht habe – wie in einem Tanz mit seinen Großeltern. Die Zeit laufe in Z Ypsilon X nicht vorwärts, sondern werde angehalten und gedehnt. Dieser Roman sei der Versuch, die lineare Ordnung aufzubrechen und die Anfänglichkeit sichtbar zu machen.
Darum beginnt Z Ypsilon X gleich mehrfach. Waterhouse erzählte, er habe fünfzehn Kapitel begonnen und wieder verworfen, ehe er den eigentlichen Anfang fand. Auf eine Frage hin erklärte er, dass der Satz „in einen hellen Wald“ als Leitmotiv immer wieder auftaucht, weil er ein Anfang ohne Ende ist. Das erinnert an Bazon Brocks performative Rhetorik: jedes Wort ist bereits Kommentar, jede Wiederholung ist Variation. Wie bei Brock wird das Publikum zum Mitspieler, dessen Urteilskraft gebraucht wird.
Wie man diesen Roman liest – und immer wieder liest
Am Schluss der Veranstaltung übernahm der Buchhändler das Wort. Seine Ratschläge wirkten wie eine Gebrauchsanweisung für dieses monströse Werk. Man solle nicht zur „Volksausgabe“ greifen, sagte er; lieber zur Vorzugsausgabe im kräftigen Leinen, mit einer Radierung von Tannhäuser. Denn dieses Buch verlange körperliche Hingabe. Vor allem aber müsse man das Buch nicht einfach durcharbeiten, sondern immer wieder neu hineinsteigen: „Immer wieder in neuen Ansätzen in dieses Buch hineinsteigen. Immer wieder … es wagen, es mit diesem Buch aufzunehmen“. Lesen heißt hier, eine Spirale zu betreten: zurückblättern, springen, verweilen, sich verirren und erneut beginnen. Der Buchhändler empfahl sogar, sich Zeit zu nehmen, vielleicht ein ganzes Leben, um dem Ende näherzukommen, ohne es je endgültig zu erreichen.
Diese Empfehlungen passen zum Stoff des Romans selbst. Z Ypsilon X erzählt von einem Enkel, der – hundert Jahre nach dem Tod seines Großvaters, der als NS‑Propagandist tätig war – den verstaubten Nachlass aus Notizen, Widmungen und Anstreichungen liest. Das Ergebnis ist keine lineare Familiengeschichte, sondern eine polyphone Beschwörung. Waterhouse macht aus den Lücken seiner Herkunft Literatur, gegen das „Voran“ der Kriegspropaganda richtet er das Zögern, das Lautlose, das Mögliche.
Ein Wald der Fragen
Lesung und Roman erinnern daran, dass Literatur nicht aus Antworten besteht, sondern aus offenen Fragen. Wasserhouse füllt seinen „hellen Wald“ mit einem Dickicht aus Stimmen, Dingen, Zitaten und Sprachen. Sein Erzähler lauscht der Stille eines alten Hotels, hört in jedem Wort ein Echo und dreht sich in Sprachspiralen, bis die Kategorien von Autor, Leser, Geschichte und Gegenwart ineinanderfließen.
Wer diesen Wald betritt, sollte bereit sein, sich zu verlieren. Man braucht Urteilskraft – nicht im Sinne eines fixen Maßstabs, sondern als Fähigkeit, ohne feste Kriterien zu urteilen. Und man braucht eine gewisse Lust am Rotieren: denn in Waterhouse’ Opus magnum sind die schönsten Momente jene, in denen der Text sich plötzlich wendet und wir eine neue Lichtung im dunklen Wald entdecken.
Sie haben diesen Abend trefflich beschrieben und das Opus magnum von Peter Waterhouse sehr gut zusammengefasst. Danke!
Das freut mich.