Die verwechselte Souveränität – Warum Europa im Digitalen nicht herrschen, sondern handeln lernen muss

Souveränität ist zu einem Wort geworden, das in Europa auf jeder Bühne erklingt: auf dem Digitalgipfel in Berlin, in vertraulichen Runden in Brüssel, in Ministerreden und Strategiepapiersätzen, die klingen wie Durchhalteformeln einer verunsicherten Moderne. Doch je häufiger der Begriff ertönt, desto leerer wirkt er. Fragt man genauer nach, heißt es beschwichtigend: Natürlich ist nicht Autarkie gemeint. Doch was dann?

Wer in die geistige Tradition eines Kontinents zurückblickt, stößt auf einen Satz, der schärfer kaum gefasst werden kann: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ In diesem einen Satz entlarvt der martialische Staatsrechtler Carl Schmitt die Souveränität als Machtfrage, als letzte Instanz des Handelns, die erst sichtbar wird, wenn alle Normalität zerbricht. Europa wiederholt diesen Satz heute nicht mehr, aber es ringt um seine digitale Entsprechung: Wer entscheidet im Augenblick der Krise? Wer hält die Hand über Daten, Netze, Algorithmen? Und wer hat überhaupt die Fähigkeit zur Entscheidung – oder läuft der Ausnahmezustand längst im Hintergrund, während wir noch von Leitplanken und Roadmaps sprechen?

Diese Debatte trifft auf einen Staat, dessen Gestalt sich verflüchtigt hat. Rüdiger Altmann nannte das einst „die späte Nachricht vom Staat“: Die alte Figur des Souveräns löst sich in Funktionen, Silben und Nachsilben auf. Aus dem Staat wurden der Sozialstaat, der Rechtsstaat, der Steuer- und der Verwaltungsstaat; heute kämen der Digital-, der Daten-, der Cyber- und der Plattformstaat hinzu. Doch die Zersplitterung der Bezeichnungen bezeugt nicht die Fülle der staatlichen Macht, sondern ihre Erosion. Souveränität, das wird schmerzhaft sichtbar, ist nicht mehr dort, wo man sie traditionell verortet hat.

Der digitale Ausnahmezustand

Betrachtet man Europas digitale Lage, wirkt der Ausnahmezustand wie ein permanentes Hintergrundgeräusch. Die Fähigkeit, zentrale Technologien selbst zu kontrollieren, ist begrenzt. Cloud-Infrastrukturen stammen überwiegend von amerikanischen Technologiekonzernen. Halbleiter – das Mark der digitalen Welt – kommen zu großen Teilen aus Ostasien. KI-Modelle, die globale Maßstäbe setzen, entstehen in Kalifornien oder Shenzhen. Und während französische Präsidenten seit Chirac mit Pathos eine europäische Meisterschaft im Digitalen beschwören, bleiben Projekte wie Quaero Fußnoten einer gescheiterten Industriepolitik. Auch in Deutschland hallten Parolen wie „E-Mail made in Germany“ kurz auf, bevor sie von der Realität eingeholt wurden.

Souveränität, so viel lässt sich in diesem Nebel erkennen, entsteht nicht durch nationale Bekräftigungen. Sie entsteht auch nicht, indem Staaten künstliche Mauern errichten oder ihre digitale Selbstbehauptung an farbfrohe Label knüpfen. Technologie folgt keiner Heraldik. Sie folgt dem Talent, der Investition, dem Mut zur Skalierung – und dem Willen, den Ausnahmezustand nicht verkünden, sondern verhindern zu müssen.

Die unsichtbaren Träger des europäischen Gewichts

Wer über Souveränität spricht, sollte die Orte aufsuchen, an denen sie tatsächlich entsteht: die Mittelständler, die tief in der globalen Wertschöpfung verankert sind. Die Firmen, die das iPhone mitprägen, ohne deren Komponenten kein autonomes Fahren möglich wäre, deren 3-D-Drucker auf der Internationalen Raumstation schweben. Es sind diese namenlosen Präzisionsunternehmen aus Baden, Schwaben oder Ostwestfalen, die weltweit unentbehrlich geworden sind – nicht durch politische Programme, sondern durch handwerkliche Radikalität und technische Überlegenheit.

Doch gerade diese Unternehmen stellen die unbequeme Frage: Was geschieht, wenn geopolitische Rivalen die Lieferketten straffen? Wenn Industrien politisiert werden? Wenn Technologien sanktioniert, Embargos verhängt, Exportkontrollen ausgeweitet werden? Werden deutsche Zulieferer, deren Bauteile ein Tesla oder Apple unabdingbar braucht, souverän – oder einfach ersetzbar? Und wer trifft die Entscheidung im Ausnahmezustand: die Europäer oder die Plattformkonzerne, die längst globale Imperien sind?

Die erschöpfte Innovationskraft

Hinzu kommt eine Entwicklung, die wie ein drohender Schatten über die Diskussion fällt: Deutschland verliert an technologischer Dynamik. Der jüngste MINT-Herbstreport zeigt, dass wir im internationalen Vergleich der F&E-Ausgaben zurückfallen, überholt von Ländern, die entschlossener, schneller, mutiger investieren. Der Fachkräftemangel lähmt jene Industrien, die Europa einst definierten. Und während in Asien neue Halbleiterfabriken entstehen, debattiert Europa darüber, ob die Genehmigungsverfahren digitalisiert werden sollten.

Die Frage, die sich stellt, ist keine akademische: Kann ein Kontinent souverän bleiben, der seine Innovationskraft verliert? Kann er im digitalen Ausnahmezustand entscheiden, wenn ihm zuvor die Fähigkeit genommen wurde, technologisch zu gestalten?

Wohin mit Europas Souveränität?

Vielleicht liegt die Antwort jenseits des staatlichen Selbstverständnisses. Souveränität im digitalen Zeitalter entsteht dort, wo Architekturen geschaffen werden, nicht Illusionen. Dort, wo Staaten den Mut finden, Kooperationen einzugehen, die größer sind als ihre Ressorts. Dort, wo Unternehmen in die Lage versetzt werden, die kritischen Teile eines globalen Systems zu bauen – und nicht nur die Illusion seiner Kontrolle.

Europa wird im Digitalen nur souverän sein, wenn es seine eigene Rolle richtig versteht: nicht als Festung, nicht als Kopie amerikanischer Tech-Konzerne, sondern als Gestalter industriellen Deep Techs, als Produzent von Präzision, Energieeffizienz und strategischen Technologien, die niemand ersetzen kann. Souveränität wäre dann nicht das Pathos des Ausnahmezustands, sondern die Nüchternheit der Gestaltungskraft.

Die große Aufgabe besteht darin, den Begriff von allem Phrasenhaften zu befreien – und ihn wieder an jene Stelle zu rücken, an der er seit jeher seinen Ursprung hat: in die Fähigkeit, handlungsfähig zu bleiben, wenn andere ins Stocken geraten. Europas Stärke ist nicht die Drohung. Europas Stärke ist die Vernunft. Und vielleicht beginnt digitale Souveränität genau dort.

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