Weltwahrnehmung durch Typisierung oder Stereotype: So individuell sind wir gar nicht

Die Digitaltechnik ähnelt nach Auffassung von Armin Nassehi der Soziologie. „Auch die Soziologie ist eine unfassbare Demütigung. Und zwar in dem Sinne, dass die Soziologie sich ja nicht für einzelne Menschen interessiert. Uns interessiert vor allem die Erwartbarkeit in bestimmten Zusammenhängen. Was heißt es eigentlich, in einer Gesellschaft zu leben. Ich habe das an meiner eigenen Person festgemacht. Ich bin ein unglaublich individueller Mensch. Wie wir alle individuelle Menschen sind. Aber fast alles, was ich tue, folgt sehr deutlichen Mustern. Meine Wohnungseinrichtung, mein Kleidungsgeschmack, die Art von Musik, die ich gut finde, die Literatur, der Zusammenhang von meiner Herkunft und meinem Beruf, mein Sprachverhalten und dergleichen“, erläutert Nassehi in einer virtuellen Session der katholischen Akademie Freiburg.

Das sei unfassbar langweilig. Roland Barthes nannte das Rituale des Alltags und bezeichnete sich selbst als Gewohnheitsmenschen. Sie vereinfachen das Leben. An einem 16. Juli notiert er: „Die morgendliche Runde (zum Lebensmittelhändler, Bäcker, während das Dorf noch fast menschenleer ist) würde um nichts in der Welt auslassen.“ 

Er schuf sich in Paris und in den Sommermonaten in Urt feste Abläufe. Mit dem Tagesanbruch macht er sich auf, Besorgungen in der Ortschaft zu machen. Er kauft den Sud-Quest, die regionale Tageszeitung. Oft geht er hinter das Geschäft, wo sich der Ofen befindet, um mit dem Bäcker, der gleichzeitig auch Bürgermeister ist, über Politik zu diskutieren. Oder er schwatzt mit der Tochter des Hauses, einer Frau, deren Aufgewecktheit er schätzt. Sie leitet das Geschäft ihrer Eltern. Wenn man ihr gegenüber den Meister erwähnt, sagt sie einfach nur: „Das war ein feiner Herr.“ Zu Weihnachten hat er ihr immer ein kleines Geschenk gemacht. In Paris favorisierte Barthes seinen „Kiez“ an der Rue Servandoni und hasste Massenansammlungen. 

Seine Arbeitsweise folgte immer dem gleichen Muster. Er arbeitete mit Karteikarten, auf denen vor allem Exzerpte aus Büchern festgehalten wurden. Später waren es immer mehr auch eigene Gedanken. 

Insofern liegt Nassehi auf einer Linie mit dem französischen Linguisten, Strukturalisten und Semiologen Barthes.

Alles sei relativ erwartbar und berechenbar. „Das ist eine Demütigung. Und die Digitaltechnik treibt das ja auf die Spitze“, betont Nassehi. Wir sind mit den digitalen Methoden noch tiefenschärfer in der Lage, um zu typisieren. „Wir versuchen immer so zu tun, dass wir einen völlig freien Blick auf die Welt hätten. Wir haben einen sehr typisierenden Blick auf die Welt.“

Diese relativ stabilen Formen seien insofern demütigend, weil wir nicht wirklich Herr im eigenen Hause sind – die schöne Formulierung stammt von Freud. Walter Lippmann (1889 – 1974), der zu den Pionieren der Medienwirkungsforschung zählt, hat das bereits 1922 in seinem Buch „Öffentliche Meinung“ untersucht. „Seine bahnbrechende Leistung liegt in seiner Entdeckung, wie Menschen untereinander kommunizieren können, nämlich nur durch die Bildung von Stereotypen, radikalen Vereinfachungen, Vereinfachungen dessen, was sie wahrnehmen, und die rigorose Bewertung als gut oder böse. Damit hatte Lippmann auch einen wesentlichen Grund für die starke Wirkung der Massenmedien entdeckt“, so die frühere Allensbach-Chefin Elisabeth Noelle.

Lippmann wurde nicht müde zu betonen, welche entscheidende Rolle der Auslese zukam. Die Welt, sagte er, ist zu groß, zu weit, zu komplex um als Ganzes verstanden zu werden. Nur mit rigoroser Vereinfachung kann man sie überhaupt wahrnehmen. Nicht die Wirklichkeit nehmen wir wahr, sondern rigorose Vereinfachungen. Die Bilder in unserem Kopf – daraus besteht für uns die Welt. Und da die Menschen verschiedene Überzeugungen, verschiedene Vorurteile haben, so leben sie auch in verschiedenen Welten, „Pseudowelten“. Die Pseudowelten, die Stereotypen als Kommunikationsmittel entdeckt zu haben, das ist die Leistung von Lippmann.

Er erkannte einen Unterschied zwischen den Originalwahrnehmungen, die ein Mensch machen kann, und dem, was er durch andere, vornehmlich die Massenmedien, erfährt; und wie dieser Unterschied verwischt wird, weil Menschen ihn sich nicht bewußtmachen, sondern die Neigung haben, sich das mittelbar Erfahrene so anzueignen und ihren Vorstellungen einzupassen, dass Original- und indirekte Wahrnehmungen untrennbar zusammenlaufen.

„Die Welt, mit der wir es in politischer Hinsicht zu tun haben,“ schreibt Lippmann, „liegt außer Reichweite, außer Sicht, außerhalb unseres Geistes. Man muß sie erst erforschen, schildern und sich vorstellen. Der Mensch ist kein aristotelischer Gott, der die gesamte Existenz … umfaßt. Er ist ein Geschöpf mit einer Entwicklung, das gerade eine Portion Wirklichkeit erfassen kann, die ausreicht, um sein Leben zu sichern und an sich zu reißen, was auf der Waagschale der Zeit nur ein paar Augenblicke der Erkenntnis und des Glückes bedeutet. Doch hat dasselbe Geschöpf Methoden erfunden, mit deren Hilfe es sehen kann, was kein bloßes Auge sehen konnte, und hören, was kein Ohr zu hören vermochte, mit deren Hilfe es ungeheuer große und unendlich kleine Massen wiegen, mehr Gegenstände zählen und voneinander trennen kann, als es als Individuum zu behalten vermag. Der Mensch lernt mit seinem Geist riesige Teile der Welt zu sehen, die er nie zuvor sehen, berühren, riechen, hören oder im Gedächtnis behalten konnte. Allmählich schafft er sich so für seinen eigenen Geschmack in seinem Kopf ein Bild von der Welt außerhalb seiner Reichweite.“

Entsprechend konformistisch nehmen wir die Welt wahr. Für Propagandisten ist das ein verführerischer Befund. Für den Pluralismus und für die offene Gesellschaft ist das Gift.

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