Wann kommt denn die dezentrale Strom-Republik, liebwerteste FDP? #Ampelkoaltion

Zentralistisch, großindustriell, subventionsbelastet, wettbewerbsfrei – die Energiekonzerne in Deutschland sind Fossile. Es ist höchste Zeit, unsere Stromversorgung anders zu organisieren. Wer bei der Energiewende von Planwirtschaft und von staatlichen Eingriffen in das Wirtschaftssystem redet, wie der FDP-Politiker Thomas Sattelberger, sollte über das Abwälzen von Kosten und Risiken der Atomindustrie auf die Steuerzahler nicht schweigen. Würde man diese Gesamtkosten in den Strompreis einrechnen und die Milliarden Euros an Fördergeldern für AKWs raus rechnen – Ökonomen nennen das Internalisierung externer Effekte – müssten wir viel höhere Preise für eine Kilowattstunde berappen. Könnt Ihr Euch noch an den energiepolitischen Appell von Brüderle und Co. erinnern?

Unwirtschaftliche Großorganisationen behindern die Energiewende

Die Atomenergie und auch die Energie aus Kohle binden gigantische Finanzmittel, personelle Ressourcen und konservieren unwirtschaftliche Großorganisationen. Man kann den Dinosauriern in Politik und Wissenschaft ja mal eine Gegenrechnung präsentieren, die vom Forum „Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft“ in der Studie „Billiger Strom aus Atom und Kohle?“ aufgestellt wurde. Für die Zeit von 1970 bis 2008 ergibt sich eine Summe von rund 165 Milliarden Euro, die als Staatsknete kassiert wurde. Dann kommen noch die Kosten für den Rückbau der Atomkraftwerke dazu – etwa 42 Milliarden Euro. Zusammen ergibt das Subventionen von über 200 Milliarden Euro. Aber damit sind wir nicht ganz fertig mit der Vollkostenrechnung. Es folgen Rückbaukosten für die noch laufenden Atommeiler, die mit 34 Milliarden Euro beziffert werden. Dann fehlen die Kosten für die Endlagerung für den hochradioaktiven Abfall, für den es bislang kein Endlager gibt. Hierfür stehen die Kosten in den Sternen. 

Solarindustrie im Stich gelassen

Professor Lutz Becker von der Hochschule Fresenius erwartet von der Politik, dass sie ein Konzept für eine mittelständisch geprägte Energiewende vorlegt. „Die deutsche Solarindustrie ist am ausgestreckten Arm verhungert. Den Bürger Windparks werden alle erdenklichen Steine in den Weg geworfen, den Ausbau machen andere. Also was ist zu tun, um etwa ein bürgerliches und mittelständisches Engagement zu fördern? Ich habe zunehmend den Eindruck, dass solche Fragestellungen viele überfordern.“ Da ist er nicht alleine. Alles werde angeblich der Wettbewerb regeln. Ob Klimaschutz, E-Mobilität, Unternehmensdemokratie oder Breitbandausbau – man überlässt die zentralen Fragen dem Markt, so tönt es seit Jahren aus den Denkzentralen der FDP. Mit Ordo-Liberalismus hat das aber nichts zu tun. Mit Wirtschaftspolitik als Staatskunst schon gar nichts. Der Wettbewerbsgedanke ist eine quasi-religiöse Schimäre. Die Wirklichkeit in planwirtschaftlich organisierten Konzernen sieht anders aus.

Nach außen Marktordnung predigen, nach innen Planwirtschaft organisieren

„Ich fand immer eine besondere Ironie in dem Umstand, dass Unternehmer, die doch gemeinhin als die Fürsprecher der unsichtbaren Hand des Marktes auftreten, in ihren eigenen Organisationen auf die sichtbare Hand des Managers vertrauen“, so Professor Martin Kornberger von der Business School Lyon. In der Realität setzen die Marktprediger auf Hierarchie, zentrale Planung, Abschottung, Absprachen und Macht. Da werden Pfründe verwaltet, das Brot-und-Butter-Geschäft bis zum bitteren Ende abgeschöpft, Innovationen verhindert und politische Hebel zur Abwehr des Allgemeinwohls eingesetzt. Die res publica geht dabei den Bach runter. Es ist geradezu lachhaft, jene Protagonisten der Autokonzerne, die sich in über tausend „Arbeitsgruppen-Sitzungen“ in zentralen Fragen des PKW-Marktes abgesprochen haben, zu Gralshütern einer Marktordnung zu machen und von ihnen eine ökologisch ausgerichtete Mobilitätswende zu erwarten.

Metaphysisches Erlösungswissen

Alexander Rüstow, einer der Architekten der Sozialen Marktwirtschaft, warnte vor einem Laisser-Faire-Dogmatismus, der von einem theologisch-metaphysischen Erlösungswissen gespeist wird und in der neoklassischen Theorie eine säkularisierte Entsprechung gefunden hat. Es dominiert nicht nur in der FDP der Absolutheitsanspruch einer Marktsteuerung, die in planwirtschaftlichen Planspielen der Konzerne vermodert. Gleichzeitig wird der Ordnungsfaktor Staat als Störfaktor gebrandmarkt. Von den Repräsentanten des Staates muss mehr erwartet werden. Dabei geht es nicht um Interventionismus oder Dirigismus. Es gibt zentrale Gestaltungsfragen für die Zukunft, die wir nicht mehr an die reduktionistischen Ziele von Managern koppeln dürfen. Darauf verweist das D2030-Beiratsmitglied Professor Dirk Helbing.

Volkswirtschaft neu erfinden

„Wir haben noch nicht so richtig begriffen, was diese UN-Agenda 2030 und die Pariser Klimaverträge implizieren. Sie implizieren, dass wir 40 bis 50 Prozent COreduzieren müssen. Warum hat das dramatische Folgen? Weil die Weltbevölkerung quasi proportional zum Erdölverbrauch gestiegen ist. Wenn wir jetzt also CO2 reduzieren und damit auch den Erdölverbrauch, dann ändert sich die Tragfähigkeit der Erde, das heißt, die Anzahl der Menschen, die auf diesem Planeten leben können. Eine Reduktion um ein einziges Prozent bedeutet, 80 Millionen Menschen werden sterben. Sie ahnen also schon, dass diese Frage der Nachhaltigkeit nicht ein Hobby von uns sein wird, sondern da geht es um Leben und Tod. Das müssen wir lösen, und zwar innerhalb von weniger als 15 Jahren. Das ist halb so viel Zeit, wie wir damit verbringen, eine Straße zu planen und zu bauen.“

In diesem Zeitraum müsse man die Volkswirtschaft neu erfinden, und zwar aus zwei Gründen: „Einerseits, weil viele alte Tätigkeiten von künstlicher Intelligenz und von Robotern übernommen werden, und andererseits, weil wir eine kohlenstoffarme Wirtschaft brauchen. Können Sie sich das vorstellen, was das bedeutet, innerhalb von gut einem Jahrzehnt die halbe Volkswirtschaft umzubauen? Was das für eine gewaltige Herausforderung ist, die selbstverständlich die gesamte Zivilgesellschaft betrifft und einbeziehen muss“, fragt Helbing. Wenn wir in Zukunft in Freiheit und Demokratie leben wollen, dann müssen wir es schaffen, das Nachhaltigkeitsproblem anders zu lösen.

„Nicht durch Optimierung, sondern durch Innovation. Innovation braucht Freiheit. Und es braucht aber auch Strukturwandel: Eine Veränderung des Geldsystems, des Finanzsystems, des Wirtschaftssystems und der gesellschaftlichen Organisation im partizipativen Sinne“, erklärt Helbing. Hört man zu dieser großen Transformation irgendetwas im Bundestagswahlkampf? Da ergeht man sich eher in Verteidigungsreden des Dieselmotors. Das schrieb ich vor vier Jahren in einer Kolumne für die Netzpiloten. Wird sich da etwas in der Ampelkoalition ändern?

Warten auf die Strom-Revolution

Schon vor gut zehn Jahren herrschte in der Energiebranche so etwas wie Revolutionsstimmung, schreibt der Spiegel: „Die großen Konzerne würden bald die Kontrolle verlieren, weil die Verbraucher ihren Strom selbst erzeugen und speichern, hieß es. Dieser Strom werde Elektroautos, Trockner und Kühlschränke antreiben, die digital kommunizieren und immer dann laden, trocknen und kühlen, wenn
das Energieangebot gerade am günstigsten ist. Die kühne Fantasie entpuppte sich bald als Rohrkrepierer. Die dezentral digitale Strom-Republik scheiterte an bürokratischer Überregulierung und einem überforderten Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, das eine Richtlinie für digitale Stromzähler erst jahrelang verschleppte und dann ein lückenhaftes Regelwerk vorlegte. Das Vorhaben wurde mehr oder weniger ad acta gelegt: Es schien zu komplex für deutsche Behörden.“

Bekommt die Ampelkoalition hier eine Wende zur dezentralen Strom-Republik hin? Und funktioniert das auch ohne Tesla.

2 Gedanken zu “Wann kommt denn die dezentrale Strom-Republik, liebwerteste FDP? #Ampelkoaltion

  1. Ich finde es bedenklich, dass die Umwandlung der Hälfte unserer Volkswirtschaft in eine kohlenstoffarme Wirtschaft in weniger als 15 Jahren immer noch nicht im Bundestagswahlkampf diskutiert wird. Das zeigt deutlich, wie weit wir bei diesem wichtigen Thema zurückliegen. Wie Professor Dirk Helbing zu Recht feststellt, unsere einzige Hoffnung sind Innovation und Strukturwandel. Wir müssen aufhören, auf eine revolutionäre Stimmung in der Energiewirtschaft zu warten, und jetzt ernsthafte Anstrengungen unternehmen, um den Klimawandel anzugehen. Andernfalls riskieren wir, in naher Zukunft mit schlimmen Folgen konfrontiert zu werden. Wir müssen Wege finden, um eine nachhaltige Zukunft für uns und die kommenden Generationen zu schaffen.
    Übrigens, danke für den Artikel 🙂

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