Tipping Points der Partizipation

Zuerst war es nach Ansicht der Piratin Marina Weisband sehr schwer, das Thema der digitalen Demokratie überhaupt zu vermitteln: „Das Konzept war neuartig und diejenigen, die sich damit beschäftigten, relativ allein. Dann gab es reges Interesse an dieser neuen Form der Beteiligung, die niedrigschwellige Mitbestimmung verspricht. Jetzt, nachdem die ersten Systeme und Versuche gerade zum Laufen gebracht worden sind, werden die geringen Teilnehmerzahlen kritisiert. Ob Liquid Feedback, Bürgerhaushalte oder andere Werkzeuge – der Prozentsatz der Teilnehmer ist im Vergleich zur Population gering. Die Süddeutsche Zeitung titelt sogar: ‚Wirkungslose Wunderwaffe'“, so Weisband in einem Beitrag für das Debattenmagazin „The European“. Aber jeder Mensch, der sich bislang herausgehalten hatte und der sich nun plötzlich für die Gesellschaft einsetzt, sei ein Gewinn. „Darum ist es nicht sinnvoll, die Anzahl der Teilnehmer nur in ihrem Verhältnis zur Gesamtbevölkerung zu sehen“, so Weisband und es ist auch wenig sinnvoll, so pessimistisch im Grundton über die Möglichkeiten der Partizipation zu schreiben.
Man sollte das auch nicht nur auf den Nutzungsgrad von Werkzeugen der Liquid Democracy reduzieren. Jede Form der Willensbekundung im Netz ist ein Schritt zu mehr Bürgerbeteiligung – als Wähler, Konsument und bald auch immer stärker als Arbeitnehmer! Das ist auch noch einmal Thema meiner heutigen Kolumne für den Fachdienst Service Insiders: Verdünnte Repression und Liquid Democracy im Arbeitsalltag: Wie Social Media die Unternehmensorganisation auf den Kopf stellt.

Auch für die Wirtschaftswelt sollte man die Wirkung von sozialen Netzwerken und unterschiedlichen Formen der Partizipation nicht unterschätzen und nur eingeschränkt betrachten unter dem Aspekt „Bring Your Own Device“ oder nur auf die Frage reduzieren, ob den Mitarbeitern im betrieblichen Alltag der Zugang auf Facebook, Twitter oder Google+ gewährt wird? Das greift ebenfalls zu kurz.

Es entstehe mittlerweile ein großer Zwang, das private Nutzungsverhalten im Social Web in die berufliche Welt zu transferieren, bestätigt IT-Personalexperte Udo Nadolski von Harvey Nash in Düsseldorf.

„Und das hört am Arbeitsplatz nicht auf. Wir erleben eine soziale Orientierung fast aller Geschäftsmodelle“, meint Nadolski.

Was man als Wähler und Konsument im Internet praktiziert, wird sich auf den Arbeitsplatz ausweiten.

„Die Menschen erleben im Privaten immer mehr die Möglichkeiten des Netzes, Anteil zu nehmen und sich zu äußern. Dann suchen sie die passenden Instrumente auch auf der betrieblichen Ebene. In manchen Unternehmen ist es ein harter Brocken der geschluckt werden muss, wenn sich die Mitarbeiter offener äußern wollen. Es ist aber ein allgemeiner Kulturtrend, der mit der Digitalisierung einher geht und dem sich die Unternehmen nicht verschließen können. Diese partizipativen Softwareelemente werden kommen und die Mitarbeiter werden sie auch entsprechend nutzen. In den Unternehmen kommt es darauf an, dass es im Sinne eines konstruktiven Dialoges genutzt wird“, sagt Unternehmensberater und bwl zwei null-Blogger Matthias Schwenk im Interview mit Service Insiders.

Ein offenes Feedback müsste eigentlich in jedem Unternehmen gefragt sein. Dabei gehe es nicht um eine immerwährende Vollversammlung, die zu einer Lähmung von Entscheidungsprozessen. Es gehe eher darum, Themen schneller aufkommen zu lassen, Inhalte schneller zu finden und Daten leichter aktuell zu halten.

„Deswegen brauche ich nicht gleich die Entscheidungsstrukturen völlig durcheinander zu bringen. Das Management kann schon sehen, in welche Richtung die Mitarbeiter bei bestimmten Fragen tendieren. Es ist heute nicht mehr so, dass die Führungskräfte alleine wissen müssen oder wissen können, wie die bestmögliche Entscheidung aussieht“, erläutert Schwenk.

Liquid Democracy könnte auch in Unternehmen vieles beschleunigen. Der Druck komme vom Markt und der Öffentlichkeit in die Unternehmen rein, einfach schneller eine Aussage zu treffen oder zu entscheiden.

„Dafür benötige ich intern solche Tools, die mir ein Gefühl vermitteln, in welche Richtung es gehen könnte. Sie signalisieren, dass ein Problem vorliegt und etwas ansteht, was noch entschieden werden müsste. Im Moment erlebe ich es an einem Beispiel in der Automobilbranche, die sich den Auto-Bloggern in Deutschland öffnet. Es gibt mittlerweile einige Auto-Blogs in Deutschland, obwohl es noch ein relativ neues Phänomen ist. Die meisten deutschen Automobilhersteller versuchen mit diesen Blogs zu kommunizieren. Es hakt aber meistens an der einen oder anderen Stelle. Manche bekommen es gut hin, einige Unternehmen haben noch ihre Probleme, weil die internen Strukturen gar nicht darauf ausgelegt sind, relativ schnell eine Zusage zu geben oder etwas zu entscheiden. Oft kommunizieren die Unternehmen über zwei bis drei Stufen nach oben und wieder zurück“, resümiert Schwenk.

In der Blogger-Welt habe man für diese hierarchischen Abläufe wenig Verständnis. Zu Recht! Und wenn sich nun auch schon Unternehmen mit dem Einsatz von Werkzeugen zur Partizipation beschäftigen, sollte Marina Weisband etwas optimistischer in die Zukunft schauen.

Im Moment tummelten sich überwiegend Kommunikationsprofis, Werbetreibende und sonstige Berater in sozialen Netzwerken, wie Christoph Kappes zutreffend bemerkt:

„Wir haben noch keine Millionen Twitter-Nutzer, die wirklich aktiv mitmischen. Aber wir werden eine Situation erreichen, dass auch breite Bevölkerungsgruppen diese Medientypen nutzen.“

Aber wann kommt der Tipping Point zumindest in der Arbeitswelt? Das fragte ich Matthias Schwenk:

„Unterschiedliche Branchen gehen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten in den digitalen Wandel. Der Maschinenbau beispielsweise hat keinen großen Druck. Irgendwann kommt sicherlich der Druck vom Markt, aber die Branche ist homogen und es passiert nicht viel. Ich wäre vorsichtig mit Prognosen, wann in welchen Branchen so etwas eingeführt werden muss. Es kann durchaus noch fünf bis sechs Jahre dauern. Bei anderen Branchen ist es schon viel zu spät. Wenn wir uns den Versandhandel anschauen. Quelle und Neckermann sind schon lange weg, insolvent und abgewickelt, da gibt es nichts mehr. Diese Unternehmen haben den digitalen Wandel verschlafen und man braucht auch jetzt nicht mit den Enterprise 2.0-Strukturen zu kommen. Für die einen ist es schon gelaufen, die anderen haben noch relativ lange Zeit. In zwei bis drei Jahren wird der Druck vielleicht spürbar sichtbar und größer. Ich kann mir vorstellen, dass über die Verbreitung von Tablets mehr Potentiale der Partizipation geboten werden und  der Druck dadurch richtig groß wird. Die Geräte sind gerade relativ billig und es kommen immer mehr Tablets auf den Markt. Das wird Auswirkungen haben, vor allem auf den konsumnahen Bereich. Bei Investitionsgütern kann es sein, dass es noch etwas länger dauert.“

Dicke Bretter bohren gehört zum Geschäft der Demokratie. Auch wenn das in Anlehnung von Max Weber schon millionenfach zitiert wurde, es stimmt. Man darf nicht ungeduldig sein.

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