Schluss mit der Hartz-IV-Debatte!

Wir sollten aufhören, eine unsinnige Hartz-IV-Debatte zu führen, denn sie entlastet die politische Klasse vor notwendigen Änderungen im System der Sozialversicherungen. Da liegt das eigentliche Problem. Darauf hat Jürgen Borchert, Vorsitzender des 6. Senats des Hessischen Landessozialgerichts, in einem Gastartikel für die FAZ hingewiesen. „Nicht die Sozialleistungen sind zu hoch, sondern die Nettolöhne der aktiven Arbeitnehmer sind zu niedrig. Zum einen ist die Sozialversicherung falsch konstruiert und zum anderen das Steuersystem ungerecht. Hierunter leiden besonders Familien“, so Borchert. Darum sollten sich Westerwelle und Co. kümmern.

Der Skandal wird bei einer vierköpfigen Facharbeiterfamilie mit einem jährlichen Durchschnittsverdienst von 30 000 Euro brutto sichtbar. Ihr Nettoeinkommen – einschließlich Kindergeld – unterschreitet das steuerliche Existenzminimum um 3271 Euro. Der Abgabenkeil wird vor allem von der „lohnbasierten“ Sozialversicherung zwischen Brutto und Netto getrieben. Allein an Arbeitnehmerbeiträgen verlangt „Vater Staat“ von dieser Normalfamilie 6068 Euro, die „Arbeitgeberbeiträge“ in fast gleicher Höhe kommen noch hinzu. Einschließlich des „Arbeitgeberbeitrags“, der bei genauer Betrachtung zu hundert Prozent vorenthaltener Lohn ist, nimmt der Staat also von 36000 Euro brutto glatt ein Drittel weg. Das sind nur 68 Euro weniger, als dem Single abgezogen werden, für dessen Alters-, Gesundheits- und Pflegeversorgung aber während der gesamten Dauer seines Ruhestands „andrer Leute Kinder“ aufkommen. Nicht ganz ohne Grund bezeichnet die OECD die Sozialversicherungsabgaben als „Social Tax“.

„Die Altenversorgung ist sozialisiert, die Kindererziehung dagegen privatisiert. So zwingt das Sozialsystem Eltern dazu, zugunsten ihrer kinderlosen Jahrgangsteilnehmer ‚positive externe Effekte‘ zu erzeugen. Die Wissenschaft nennt dies die ‚Transferausbeutung der Familie‘. Sie ist in Deutschland weit größer als sonst auf der Welt“, schreibt Borchert.

Hinzu komme, dass der Staat auch durch die Verbrauchsteuern bei den Familien besonders abkassiert, denn Familien verbrauchen im Vergleich zu Singles bei gleichem Einkommen ein Mehrfaches. Für das auf 7000 Euro bezifferte Kinderexistenzminimum belaufen sich die vielen indirekten Steuern auf eine Quote von 20 bis 25 Prozent. Ausgerechnet die wichtigste „Zukunftsinvestition Kind“ werde als einzige Investition also monatlich mit mindestens 120 Euro Verbrauchsteuern belastet. Das Schreckgespenst der scheinbar zu hohen Hartz-IV-Leistungen entpuppt sich als die verfassungswidrig hohe Abgabenlast für Familien.

Sozialbeiträge und Verbrauchsteuern wirken „regressiv“; sie belasten niedrige Einkommen stärker als höhere. Zusammengerechnet machen sie mehr als siebzig Prozent der gesamten Staatseinnahmen aus.

Der norwegische Wirtschaftsnobelpreisträger Trygve Haavelmö hat schon in den Jahren nach 1940 nachgewiesen, dass die Kraftreserven einer Volkswirtschaft immer im untersten Drittel ihrer Einkommen liegen. Genau diese Schichten werden durch ein solches Abgabensystem aber ausgeplündert.

Nicht die Arbeitssuchenden sind nach Meinung von Borchert faul, sondern der Staat, der seine in Paragraph 1 des Sozialgesetzbuches III im Einzelnen normierte Verantwortung für den Arbeitsmarkt nicht wahrnimmt. „Den Millionen Arbeitssuchenden zu unterstellen, sie wären freiwillig arbeitslos, ist der Versuch, Opfer zu Tätern zu machen“, resümiert Borchert. Und man kann sich dieser Analyse nur anschließen.