Plädoyer für eine Anti-Spitzer-Bewegung: Digitale Demenz ist ein Problem von alten Hirnforschern

Gestern konnte ich eine private Premiere feiern :-). Ich sah zum ersten Mal in voller Länge die Talkshow von Günther Jauch im Ersten. Es sind wohl die Spätfolgen des Christiansen-Syndroms, die sich in meinem Kopf festgesetzt haben, dass ich mir fast nie irgendeine Talksendung anschaue, die uns täglich angeboten wird.

Der Grund für die Ausnahme ist schnell erklärt. Wegen meiner kleinen Polemik zur digitalen Demenz des Hirnforschers Manfred Spitzer rief die Jauch-Redaktion Anfang vergangener Woche an und fragte, ob ich nicht Interesse hätte, an der Runde teilzunehmen. Da das bei mir am Wochenende nicht ging, wollte ich zumindest erfahren, was die „prominenten“ Kontrahenten von Spitzer an Argumenten vortragen. Eigentlich hat man in dem TV-Format keine großen Möglichkeiten, so ein komplexes Thema wirklich sachgerecht zu behandeln. Das war auch gestern so. Zu einem ähnlichen Befund kommt Spiegel Online-Redakteur Ole Reißmann:

„Mal abgesehen vom immerhin noch lustigen Umstand, dass ausgerechnet im weitgehend passiv genutzten Fernsehen so über die größte interaktive Wissensmaschine der Geschichte gelästert wird – es war größtenteils wirklich schlimm. Wobei es später noch Punkte für Gelassenheit und Kompetenz zu verteilen gibt, allerdings nicht für Jauch und seinen Kronzeugen, den Psychiater Manfred Spitzer. Der hat ein Buch geschrieben, in dem er vor Internet-Verdummung warnt und Eltern aufträgt, ihren Nachwuchs möglichst lange von Computern fernzuhalten. Es ist ein gewagtes Mash-up aus rhetorischen Fragen, Allgemeinplätzen und ausgewählten Studien. Die Jauch-Redaktion prügelt Spitzers 368-Seiten-Pamphlet für die Fernsehzuschauer in einen Satz: ‚Wir klicken uns das Gehirn weg‘.“

Reißmann verweist dabei auf zwei sehr löbliche Initiativen. Etwa die von Martin Lindner im Carta-Blog. Martin hat sich durch das Spitzer-Opus förmlich gequält. Nach meiner Wochenend-Lektüre des Demenz-Buches kann ich das bestätigen.

„Diese Suada ist, mit dem Vorwort beginnend, die erste, alles verbindende Schicht des Buchs. (‚Aber, Herr Spitzer, höre ich oft besorgte Eltern fragen …‘ diese merkwürdigen Einsprengsel durchziehen übrigens das komplette Buch, gs). Es liest sich über weite Strecken wie eines dieser obskuren Bücher im Eigenverlag, mit denen selbsternannte Warner und Weltretter in der untergegangenen Gutenberg-Galaxis ihre wirren Meinungen mikropublizierten, vor der Erfindung des Blogs. Der Text genügt selbst in keiner Weise den Maßstäben, die die bildungsbürgerliche Kultur an Argumentation und Stil stellt. (Obwohl ausdrücklich dem Lektor für den Schliff an diesem ‚Rohdiamanten‘ gedankt wird!) Aber das macht nichts, weil es keine/r liest, außer denen, denen dieser Erguß aus der Seele spricht. Ansonsten ist das ein Talkshow-Buch“, schreibt Lindner.

Und dieser Trick funktioniert doch. Spitzer wird jetzt durch die Sender getragen. ZDF, ARD und Co.

Die Gegner von Spitzers Thesen würden in der Regel vor der “Hirnforscher”-Pose einknicken: “Die Ergebnisse Ihrer Forschungen bestreite ich ja gar nicht, aber …”

Und schon habe er gewonnen.

„Wäre er nicht der ärztliche Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, mit vielen peer-reviewten englischsprachigen Aufsätzen zur Wirkung von Depressionen und Sucht auf das Langzeitgedächtnis, würde kein Hahn danach krähen. Sobald man ein klein wenig näher hinschaut (was NormalleserInnen nicht tun und auch kaum können), sieht man, dass es hier keine (!) klaren wissenschaftlichen Ergebnisse gibt, die als bewiesen gelten dürfen – obwohl Spitzer ständig gegen seine Feinde, die Medienpädagogen, polemisiert und auf ‚über 200 Studien‘ verweist, die er ausgewertet habe“, führt Lindner weiter aus.

In der After Jauch Show, an der ich auch teilnahm (mit etwas Verspätung, da ich mit den Missbrauchsfällen am katholischen Gymnasium Cojobo beschäftigte), machte Martin Lindner dann noch eine interessante Anregung. Man sollte das Spitzer-Werk kollaborativ auseinandernehmen – ähnlich wie die Doktorarbeit von Ex-Minister Gutti. Erste Ansätze sind auf Carta und im Dotcom-Blog nachzulesen.

Noch einen Schritt weiter geht der Gaming-Experte Christoph Deeg, der zu einer Anti-Spitzer-Bewegung aufruft. Es reiche nicht aus, dass demente Büchlein zu zerlegen und die Fakten-Melange auf Richtigkeit zu prüfen. Alte Männer wie Spitzer präsentieren keine Lösungen für den Trend zur Vernetzung, sie sind das Problem, warum wir in Deutschland immer mehr in digitaler Mediokrität versanden.

In ausführlicher Form werde ich in meiner The European-Mittwochskolumne auf das Interview mit Deeg eingehen. Weitere Anregungen sind natürlich wie immer willkommen!

Die digitale Demenz ist ungefähr genauso valide wie Forschungsergebnisse der Florida Atlantic University: Twitter-Kurznachrichten geben angeblich Rückschlüsse auf Psychopathien. Eher sind es Projektionen von anmaßenden Wissenschaftlern, die sich im herrischen Kasernenton austoben und gerne mit erhobenen Zeigefinger den Schlaumeier herauskehren – wie Spitzer in der Jauch-Sendung.

Siehe auch:

Wer schützt uns vor den Jugendschützern? Der Abstieg in den Internet-Provinzialismus.

Das Geschäft mit der “German Angst” oder Wie bringt man ein Sachbuch auf die Bestsellerliste?