Lärmende Besserwisserei in Corona-Debatten – Wissenschaftliche Standards bleiben auf der Strecke

Nicht jeder ist ja Abonnent des prmagazins. Ein Tatbestand, den Ihr dringend ändern solltet.

Aber meine Netzgedanken für die Mai-Kolumne, die ich Mitte April zu Papier gebracht habe, wollte ich Euch nicht vorenthalten, weil gerade im Hochschul-Kontext einige Protagonisten wichtige Standards des wissenschaftlichen Arbeitens über den Haufen geworfen haben. Die Forschungsarbeiten dieser Akteure muss man wohl ex-post noch einmal sorgfältig überprüfen. Vielleicht finden sich ja auch in Vor-Corona-Zeiten einige Dinge, die nicht so ganz seriös daherkommen.

Hier nun meine Mai-Kolumne:

Im Nachgang der Corona-Krise werden wir nach Ansicht von brandeins-Autor Thomas Ramge harte Diskussionen darüber führen, wer auf Grundlage welcher Informationen richtig und wer falsch entschieden und gehandelt hat.

„Wir sollten uns grundsätzlich vor vorschnellen Urteilen hüten, aber umso schneller neue Evidenz und Lernerfahrungen in intelligentes Verhalten übersetzen. Bezogen auf die intelligente Nutzung von Daten, Statistik und aus Daten lernenden Systemen lautet ein wichtiger erster Hinweis: Bezogen auf die wichtigen Fragen zur Bekämpfung des Corona-Virus leben wir auch in Zeiten von Big Data in bitterer Datenarmut“, schreibt der Autor des neuen Buches postdigital in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel. 

Und wir leben immer noch in Zeiten, in denen wissenschaftliche Standards in der Corona-Krise fast panikhaft unterlaufen werden. Vor allem in der Kommunikation (auch in der Wissenschaftskommunikation – Nachtrag). So behauptet ein Marketingprofessor aus Münster, dass „die Leute“ nach Normalisierung schreien würden, also nach einer Aufhebung der Lockerung der Ausgangsbeschränkungen. Ich konnte in meiner Umgebung keinen erkennen, der so etwas schreit. Jetzt bin ich nicht repräsentativ. Aber Formulierungen wie „die Leute“ sind immer etwas allgemein, profan und höchst unseriös. 

Lustig sind auch geschilderte Beobachtungen von unterwegs, das man hie und da Menschen gesehen hat (beispielsweise in einem Naherholungsgebiet), die in Gruppen zusammen standen. Dann war wohl der Beobachter zumindest ein kleiner Bestandteil der Gruppe – wenn auch mit einiger Entfernung. Zumindest hat er das Naherholungsgebiet aufgesucht, wie die anderen von ihm beobachteten Menschen und sitzt mit seinem Empörungsjargon im Glashaus.

In großen Teilen der Bevölkerung werden die Corona-Maßnahmen von Bund, Ländern und Kommunen begrüßt – folgt man den Umfragen von Forschungsgruppe Wahlen und Co. Darauf kam vom Münsteraner Marketingprofessor eine Replik auf Facebook:

„Die Leute schreien. Und widersetzen sich den Regeln. Manchmal muss man halt ein wenig hinschauen.“

Er meinte damit eine Äußerung von Cornelia Betsch gegenüber dem Spiegel. Angeblich würde es einen Zusammenhang zwischen steigender Mobilität der Bevölkerung und den sinkenden Zustimmungswerten zu den Corona-Maßnahmen der Politik geben. 

Meine Antwort: Korrelation gleich Kausalität? Wir könnten jetzt noch eine dritte Kurve anfügen. Das wäre die Wetterkarte. Daraufhin sagte der Kollege von Frau Betsch auf Twitter:

„Klar ist das schöne Wetter auch ein möglicher Grund für gestiegene Mobilität. Die Korrelation zwischen Mobilität und Risikowahrnehmung ist dennoch beträchtlich, und ein kausaler Zusammenhang plausibel. Schließt sich sich nicht gegenseitig aus“, schreibt Frank Schlosser  (Twittername @franksh_).

Den genauen Prozentwert konnte er mir dann nicht nennen, zumindest nicht bis zum Abgabetermin meiner Kolumne. Auf der Infografik kann man nur eine kleine Veränderung der Zustimmungswerte erkennen. Die publizierten Thesen wurden wohl gewaltig aufgeblasen. Die präzisen GPS-Daten der Netzbetreiber mit einer Panel-Online-Umfrage zu korrelieren, ist ein gewagtes Unterfangen – höflich ausgedrückt. Es gibt auch Zufälle oder Kontingenz, werte Wissenschaftler.

„Jedes menschliche Problem hat viele Lösungen, und Humanität beweist sich in dem Mut, den eingeschlagenen Weg konsequent, aber in dem Bewusstsein zu gehen, dass es auch andere Wege gibt, die nicht weniger berechtigt sind.“

Henning Ritter

Diesen Gedanken des Publizisten Henning Ritter sollten wir in Post-Corona-Zeiten noch einmal vertiefen. Lärmende Besserwisserei sollte in öffentlichen Diskursen dann nicht mehr praktiziert werden – auch nicht von Marketingprofessoren.

Zu Henning Ritter siehe auch: Henning Ritter, der Atomausstieg und die wohltuende Wirkung der Bescheidenheit

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