Die Kunst der Lektüre: Vom Inhalieren, Scannen und von der Jagd nach Sätzen

Gunni vor Papis VW-Käfer

Gerade feile ich an einem Essay oder eine Kolumne über eine „Theorie der Sozialen Ökonomie – Selbstorganisation statt Fremdbestimmung“, um den Niedergang der Manager-Herrschaft in Worte zu fassen, durchflute meine Bibliothek und mein digitales Archiv, stoße immer wieder auf sehr schöne Lektürefrüchte und bin immer wieder überrascht, was ich schon so alles gelesen habe. Interessant – mal unabhängig von meinem etwas hochtrabenden Titel einer Theorie der Sozialen Ökonomie – sind immer wieder die Lektüretechniken, die mir über den Weg laufen. So fragt Bazon Bock seinen Freund und Philosophen Peter Sloterdijk, wie er denn sein unglaubliches Lesepensum bewältigen würde. Brock selbst finde es „tollkühn“ wenn er lesenderweise von Seite 2 auf Seite 3 komme. Sloterdijk bezeichnet seine Art des Lesens als „inhalatorisch“. Peter Weibel, Medientheoretiker und Vorstand des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM) hingegen liest nicht quer, er scannt die Bücher und braucht gerade mal 20 Minuten für ein Werk. Brock vergleicht die Einverleibung eines Buches mit der Einverleibung einer Mahlzeit. Ich selbst habe ja etwas vollmundig erklärt, der Recherche- und Lektüre-Methode des Religionsphilosophen Jakob Taubes zu folgen, der ein wichtiges Werk und eine zentrale Botschaft schon durch Handauflegen erkannte – ist mir bislang nicht gelungen 😉 Es war seine Art, die für ihn wichtigen Werke zu lesen. Er war ein Jäger des einen Satzes oder Wortes, in dem sich das Wesentliche des Geschriebenen kondensierte.

Die Kunst des Suchens

Letzteres ist wohl praktikabler. Oder wie wäre es mit Johann Gottfried Herder, der den Ozean der Gelehrsamkeit ohne moralisierenden Kanon, ohne hausmeisterliche Ratschläge und ohne kulturkritisches Gejammer bereiste. Das stellt Herder im “Journal meiner ersten Reise im Jahr 1769″ unter Beweis.

“Wenn Francis Bacon der erste erklärte Entdecker auf dem Meer der Gelehrsamkeit war, so ist Johann Gottfried Herder der erste Surfer. Seine Datenreise durch die möglichen Adressen und Kombinationen zeigt ein Verhalten, das seitdem inmitten der ‘Informationsflut’ zur notwendigen Kunst geworden ist”, so die Autoren Bickenbach und Maye in ihrem Opus “Metapher Internet – Literarische Bildung und Surfen”, erschienen im Kadmos-Verlag.

Das Reisejournal könne als Protokoll einer imaginären Reise betrachtet werden.

„Die Seiten sind fast ausschließlich mit geistigen Abenteuerfahrten, Projektaufrissen, gelehrten Listen und Materialsammlungen gefüllt. Ein Großteil des Textes besteht aus reinen Namenslisten, Autorennamen, die sämtlich im Plural geführt werden und die Herder einmal ansteuern will.”

Bildung durch Reisen

Herder gleite über enorme Datenmassen, Themenkomplexe und Horizonte hinweg, die sich nur rhapsodisch und punktuell berühren lassen.

Er selbst wird zum Cursor, zum Läufer, der im virtuellen Raum der Gelehrtenbibliothek zwischen Texten durcheilt und in dieser schnellen Bewegung neue Querverbindungen schafft, die man so bisher noch nicht gelesen hat. Er wendet die Kulturtechnik der kursorischen Lektüre an.

“Herder darf schnell werden, weil er nicht nur auf eine neue Form des Lesens rekurriert, sondern auch auf eine alte rhetorische und gelehrte Schreibtechnik. Es ist ein methodisches Verfahren, das ihm die Lizenz zum Flüchtigen gibt….Die gelehrte Lizenz, Materialmengen ‘aufs Geratewohl’ zu durcheilen und die Frage der richtigen Ordnung zugunsten der größeren Nähe zum furor poeticus hintanzusetzen, ist sogar in einer eigenen literarischen Gattung Tradition (die sog. Sylvae oder Wälder)”, führen Bickenbach und Maye aus.

Man schreibt nicht akademisch oder pedantisch genau, sondern aus dem Stegreif. Für Herder war klar, dass eine Bibliothek, die zu stark auf die Ordnung des Wissens Einfluss nimmt, Innovationen erschwert oder unmöglich macht. Nichtwissen ist dabei eine notwendige Voraussetzung, um innovativ sein zu können. Kein Gelehrter könne das Universalarchiv noch einholen. Alles ist nicht zu lesen, zu kennen, zu wissen.

Kanonische Wissensbestände sollten daher durch intelligente Suchroutinen ersetzt werden. Bildung unter hochtechnischen Bedingungen wäre demnach eine operative Kompetenz – im 18. Jahrhundert und auch heute! Klugheit im Umgang mit Informationsfluten empfahl auch Marshall McLuhan mit Verweis auf eine Kurzgeschichte von Edgar Allen Poe.
Dem Matrosen in Poes Abhandlung über den “Sturz in den Malstrom” bleibt nichts anderes übrig: Er nutzt die Strömung des Wirbels gegen ihre eigene Gewalt. Man muss mit der Geschwindigkeit gehen können, um danach erst an jenen Stellen langsam zu werden, wo es sich lohnt.

Und dann kommen wir zur Standardfrage von Besuchern, die meine Bibliothek etwas verwundert betrachten. Wie viele von diesen Büchern hast Du denn wirklich gelesen??? Der Schriftsteller Umberto Eco antwortet darauf:

“Gelesene Bücher sind längst nicht so wertvoll wie ungelesene”.

Eine Bibliothek sollte so viel von dem, was man nicht weiß, enthalten, wie der Besitzer angesichts seiner finanziellen Mittel hineinstellen kann. Auch er macht sich ab und an Gewissensbisse, weil er einige Bücher noch nicht gelesen hat und stößt dabei auf ein überraschendes Phänomen: Wir nehmen eines dieser vernachlässigten Werke zur Hand, blättern es durch und entdecken, dass wir schon fast alles kennen, was darin steht. Die Büchersammlung und mittlerweile auch mein digitales Archiv ist vor allem ein Depot für Zufallsfunde, für neue Gedanken und Ideen. Soweit meine Blog-Melange am Sonntag, die ich noch einmal neu kombiniert habe.

Jetzt gehe ich wieder auf die Suche nach einer Theorie der Sozialen Ökonomie, um gegen die Controlling-Gichtlinge ein etwas besseres Argumentarium auf die Beine zu stellen. Ist mir bislang nur in Ansätzen gelungen.

3 Gedanken zu “Die Kunst der Lektüre: Vom Inhalieren, Scannen und von der Jagd nach Sätzen

  1. Bei Lichtenberg, erinnere ich mich dunkel, gelesen zu haben, man könne aus jedem Buch ohnehin nur das behalten, was man sich daraus als Abstraktum herauszieht. Sozusagen die „Kernthese“ und ein paar anekdotische Einzelteile. Insofern kann der geübte Leser viele Sachbücher und Aufsätze ganz gut im schnellen Überflug einfangen. Es gibt dann aber hin und wieder Bücher, bei denen man das Gefühl hat, es fehlt einem etwas, wenn man ein Kapitel auslässt.
    P.S. Falls bei deinem Thema “Theorie der Sozialen Ökonomie – Selbstorganisation statt Fremdbestimmung” noch nicht auf dem Screen gehabt, empfehle ich zur Mechanisierung des Managertums und der Kontraproduktivität des Managerismus Christoph Bartmann „Leben im Büro“. Sehr schöne Innensicht auf die Verzweiflung der operativen Ebene über den Zwang, sich selbst und gleichzeitig andere nach „Zielen“ und Zahlen zu managen, plus gute Darstellung der Entwicklung der Management-Theorien im 20. Jahrhundert.
    Und ist „Ökonomie“ nicht per se eine soziale Funktion? Sie schafft ja den grundlegenden sozialen Zusammenhang. Eine „unsoziale Ökonomie“ scheitert daher immer früh oder später, weil der soziale Zusammenhang an zu vielen Stellen aufreißt. Eine unsoziale Ökonomie ist deswegen immer eine unökonomische Ökonomie. Man kann die (zum Teil nie ganz zu vermeidenden) Fehler einer Ökonomie nur bis zu einem gewissen Punkt kleben und kitten („Sozialkosten“). Wenn man – auf gesellschaftlicher Ebene, nicht auf Ebene des Einzelbetriebs – nach dem Ausschau hält, was ökonomisch am sinnvollsten ist, wird man immer bei einem System landen, das sozial ist. Auch der sog. Kommunismus ist an seiner „Unökonomie“ gescheitert, nicht daran, dass die Menschen die „Idee“ abgelehnt hätten. Da schließt sich dann der Kreis: Sowohl Kommunismus als auch Manager-Kapitalismus sind an der Stelle unökonomisch, wo sie Menschen, die was arbeiten wollen, ständig Lenkung von oben zwischen die Beine werfen. (Vergl. Start-ups, die praktisch nur funktionieren, wenn sie aus Lenkungshierarchien ausgeklammert sind, um sich stattdessen wie eine Popband zu organisieren, also hauptsächlich intrinsisch, auf Basis interaktiver und argumentativer Kommunikation, erfolgsbeteiligt etc.)

  2. @Michael Wann und wo wird Dein Beitrag erscheinen? @Fritz Bartmann bin ich gerade am „Scannen“. Und meine „Theorie“ (ist ja eigentlich gar keine) beizieht sich eher auf die „Mikrooebene“. Aber Deine Ausführungen zum Manager-Kapitalimismus gehen schon in eine Richtung, wo ich den Versuch einer Abgrenzung wage. Mal schauen, vielleicht geht es in der Argumentation auch daneben.

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