Neustart für die Netzpolitik: Carta-Mitherausgeber Wolfgang Michal bei #Bloggercamp.tv

Perspektiven für die Netzaktivisten
Perspektiven für die Netzaktivisten

Heute Abend (18:30 Uhr) ist Carta-Mitherausgeber Wolfgang Michal zu Gast in Bloggercamp.tv, um mit uns über seine Thesen für einen Neustart der Netzpolitik zu diskutieren. Nach der Bundestagswahl mit dem Niedergang der Piraten, der recht gleichgültigen Reaktion der öffentlichen Meinung auf den NSA-Überwachungstotalitarismus und dem Erfolg der „alternativlosen“ Politik von Kanzlerin Angela Merkel ist die Netzcommunity auf der Suche nach einer Erfolgsformel für die netzpolitische Agenda.

Gerade bei den so genannten Sachthemen wäre eine Änderung der Strategie dringend erforderlich, schreibt Michal in seinem Beitrag „Netzpolitik: Das Ende der Kindheit“:

„Egal, ob man nun lang und breit über Kontrollverlust doziert oder über europäische Datenschutzgrundverordnungsrichtlinien, man bleibt auf der technizistischen Sprachebene eines Telekom-Ingenieurs oder eines EU-finanzierten Projektleiters in irgendeinem universitären Post-Media-Lab. Auch im Mund von Digital Natives klingen Netzneutralität und Breitbandausbau nicht betörender als kommunale Regenwasserkanal-Erneuerung oder Festnetzanschluss.“

Bei vielen „Sachthemen“ werde heute die Chance vertan, eine verständliche, nicht-elitäre Sprache zu entwickeln.

„Denn der von Felix Schwenzel zum Kronzeugen einer ‚Mir doch egal‘-Haltung erhobene Rhön-Bauer wird von der Digitalisierung genauso erfasst werden wie der piratige Altbaunerd in Berlin-Friedrichshain. Für beide geht es um ‚gleiches Recht für alle‘, um ‚Schutz der Privatsphäre‘, um den freien Zugang zu alten Apfelsorten. Um Themen, die auch Digital Immigrants verstehen. Das bedeutet, dass die Netzbewegten das sie umhüllende ‚Netz‘ endlich ablegen müssen wie ein schlüpfendes Küken seine Eierschalen“, erläutert Michal.

Der Eintritt in die realen Welten der Rhönbauern und der unbekannten CDU-Wählerinnen bedeutet nach seiner Ansicht allerdings auch, dass man sich bewusst für oder gegen das Politikmachen entscheiden muss. Vielen Netzbewegten fehle bislang das Zeug zum political animal.

„Sie sind eher Medienmenschen als Politiker, eher Gäste als Gestalter von Politik. Man kann sich natürlich weiter über die Philipp Mißfelders und Asgar Hevelings begöschen, aber als politische Netzwerker sind diese allemal ausgefuchster als Piraten, Blogger und digitale Pressesprecher. Dass eine Marina Weisband mitten im Höhenflug ihrer Piratenpartei aussteigt und lieber Tweets aus ihrem Poesiealbum verschickt; dass ein Sascha Lobo lieber Kolumnen bei Spiegel Online verfasst, als sich an die Spitze der Bewegung zu stellen; dass die CCC-Sprecher lieber Unternehmen beraten oder FAZ-Artikel verfassen, als Politik zu gestalten – das kann man ihnen nicht vorwerfen, das muss letztlich jeder für sich selbst entscheiden. Wenn sich die Besten (die Sympathieträger!) absentieren oder in behaglichere Nischen zurückziehen, kommen eben Leute an die Spitze, die es nicht so gut können. Dann muss man sich mit politischer Einflusslosigkeit bescheiden.“

Deutliche Worte, die wir heute mit Wolfgang erörtern. Mit dabei ist Wolfgang Bogler, der im Saarland mit Live-Formaten experimentiert. Wer noch spontan Interesse an einer Teilnahme am Hangout-Gespräch hat, möge sich noch schnell bei mir melden. Man braucht einen Google Plus-Account, ein vernünftiges Mikrofon, eine Webcam und gutes Licht.

Bevor wir die Sendung auf Livestreaming-Modus stellen, machen wir noch mit allen Teilnehmer einen Technik-Check so gegen 18:15 Uhr.

Ansonsten könnt Ihr über Twitter mit dem Hashtag #Bloggercamp Eure Fragen und Anmerkungen posten.

Man hört und sieht sich spätestens um 18:30 Uhr.

In der zweiten Session, um 19:30 Uhr geht es übrigens um Augmented Reality.

Über Powerpoint-Technokraten und pseudo-rationale Zahlenspielereien #djv_bo

Business-Weisheiten mit Eselsohren
Business-Weisheiten mit Eselsohren

Führungskräfte in Organisationen umgeben sich gerne mit Mythen der Rationalität und konstruierten Kausalketten, um ihre Entscheidungsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Zufall, Glück und Unberechenbarkeit sind die natürlichen Feinde des allwissenden Dirigenten in Politik und Wirtschaft. Der Glaube an Kontrolle und Steuerung zählt dennoch hartnäckig zum Bullshit-Einmaleins der Positionselite, um am Ruder zu bleiben. Oder in den Worten des Philosophen Harry G. Frankfurt: Bullshitting lässt den Klugscheißer klug erscheinen und sei immer dann unvermeidlich, wenn die Umstände es erfordern zu reden, ohne zu wissen worüber.

„Der magische Glaube muss in Organisationen durch Beschwörungen, Zeremonien, Mythen und Legenden des Erfolgs gefestigt werden“, schreibt der Organisationstheoretiker Professor Günther Ortmann in seinem Opus „Die Kunst des Entscheidens“ (Verlag Velbrück Wissenschaft).

Zweifler und Skeptiker stören die Aura pseudo-rationaler Entscheidungen – sie werden abserviert.

Benedikt Herles, der zur jungen Wirtschaftselite des Landes zählte, hat das hautnah miterlebt und im Interview mit Spiegel Online sowie in seinem neuen Buch „Die kaputte Elite – Ein Schadensbericht aus unseren Chefetagen“ (erschienen im Knaus Verlag) ausführlich erläutert:

„Leistung ist in diesem System die einzige Religion. Wer das Risiko scheut, überlebt am besten. Die Leute sind ängstlich und brutal ehrgeizig, Statussymbole sind ihnen wichtig. Und man muss technokratisch veranlagt sein, sonst langweilen einen die Analysen und scheinrationalen Prognosen.“

Wichtig ist nur Powerpoint-Schaumschlägerei. Bei einem einstündigen Meeting kommen dann auch schon mal bis zu 100 Folien an die Wand.

„Die wichtigste Regel: Es darf nichts zittern. Alles muss auf den Millimeter exakt formatiert sein. So mancher Manager schaut sich die im Jargon ‚Decks‘ genannten Präsentationen im Schnelldurchlauf an. Das muss astrein aussehen“, sagt Herles gegenüber Spiegel Online.

In der digitalen Sphäre ist es sogar noch schwieriger, den Schein von Planung und Ratio zu wahren:

„Alle Thesen und Prognosen, die wir in der Vergangenheit aufgestellt haben, sind nicht in Erfüllung gegangen“, so der ernüchternde Rückblick von Jochen Wegner, Chefredakteur von „Zeit Online“, auf seine 23-jährige Berufserfahrungen mit Internet-Trends. „Nichts von dem, was wir prognostiziert haben, ist wahr. Nur eine einzige These ist übrig geblieben und die lautet: Alle Thesen im digitalen Journalismus sind falsch.“

Dennoch gibt es eine Sehnsucht nach einfachen und allgemein gültigen Thesen, die immer wieder in die Öffentlichkeit geblasen werden – was wohl am schlechten Gedächtnis der Thesenautoren liegt. Wegner benennt einen Springer-Vorstand, der beklagte, dass es in den frühen Tagen des World Wide Web nicht gelungen sei, eine Bezahlinfrastruktur zu etablieren. Solche Leute saßen damals wohl in Meetings ihrer Kinderkrippe. Es gab ein Wettrennen zwischen AOL mit geschlossenen, kostenpflichtigen sowie exklusiven Medieninhalten und dem freien Internet.

„Das offene Internet hat damals gewonnen. Alle Online-Verlagsmodelle dieser Zeit sind gescheitert, wenn sie Geld verlangt haben“, erläutert Wegner bei seinem Eröffnungsvortrag auf dem Besser-Online-Fachkongress des Deutschen Journalisten Verbandes in Mainz.

Selbst Internet-Guru Howard Rheingold, der den Begriff der virtuellen Gemeinschaft prägte, ist grandios gescheitert. Er habe, so Wegner, für sehr viel Geld eines japanischen Risikokapitalgebers bewiesen, dass Communities kein Geschäftsmodell sind. Das Projekt hieß Electric Minds. Auch Wegner war davon überzeugt, mit Community-Projekten kein Geld machen zu können. Einige Internet-Blasen später kam dann Mark Zuckerberg mit Facebook und mittlerweile sei der Community-Redakteur wieder ein gefragter Beruf.

Dann gebe es da noch Apple.

„Das ist eine Firma, die nach unseren Thesen alles falsch gemacht hat – genau deswegen ist sie vielleicht so erfolgreich. Die Firma wird diktatorisch geführt, ist verschlossen bis zur Paranoia und ignoriert jegliche Marktforschung – sagen sie das mal einem Verleger. Apple betreibt eine komplett geschlossene Plattform, kultiviert einen Kontrollwahn, setzt nicht auf Open-Source-Standards. Apple ist eigentlich böse und wird dafür geliebt. Und Apple will Geld für Content“, führt Wegner weiter aus, der mittlerweile weghört, wenn sich Experten gegenseitig das Netz erklären.

Er ist thesenmüde, was allerdings zu einer anderen Form von Wachheit führt. Zu einer Wachheit, die genau beobachtet, was jetzt und hier passiert. Diese Thesen-Aversion führt zur Konzentration auf das, was ist. Alle drei Monate passieren Sachen, wo man sich grundsätzlich fragt, ob der eingeschlagene Weg noch richtig ist. Deshalb hat „Zeit Online“ seinen Redaktionsbetrieb komplett auf einen zweiwöchigen Rhythmus umgestellt.

Ausführlich nachzulesen in meiner heutigen The European-Kolumne: Gelegenheit schlägt Planung!