Über den Untergang der Industriewirtschaft: Wo sind Konzepte für die vernetzte Ökonomie?

Politikrezepte der Wirtschaftswunder-Zeit greifen nicht mehr
Politikrezepte der Wirtschaftswunder-Zeit greifen nicht mehr

In Deutschland arbeiten im verarbeitenden Gewerbe immer weniger Menschen unmittelbar in der Fertigung, während die Beschäftigung insbesondere bei den für die Wettbewerbsfähigkeit entscheidenden produktionsnahen Dienstleistungen wie Forschung, Entwicklung, Organisation, Management und Beratung zunimmt. In den exportstarken Branchen wie dem Fahrzeugbau oder dem Maschinenbau war die Entwicklung besonders dynamisch. Dies sind die zentralen Ergebnisse einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin).

„Auch innerhalb der Branchen findet ein Strukturwandel statt“, sagt DIW-Experte Alexander Eickelpasch.

In den Jahren 2007 bis 2011 ist die Zahl der Industriebeschäftigten, die unmittelbar in der Produktion tätig sind, um 2,5 Prozent gesunken. Dies geht teilweise auf eine steigende Arbeitsproduktivität, teilweise auf den verstärkten Bezug von Vorleistungen, die bisher selbst erstellt wurden, und teilweise auf den verstärkten Einsatz von Leiharbeit zurück. Die Zahl der Personen, die in Industrieunternehmen Dienste erbringen, ist dagegen in diesem Zeitraum um 2,5 Prozent gestiegen. Bei den produktionsorientierten höherwertigen Dienstleistungen ist die Beschäftigung sogar um 4,5 Prozent gestiegen, und hierunter in Forschung und Entwicklung um 5,8 Prozent sowie bei Leitung und organisatorischen Tätigkeiten um 16,0 Prozent.

Dieser Strukturwandel ist Erkenntnissen des DIW in allen Industriebranchen zu beobachten, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. In den international ausgerichteten Branchen mit einer überdurchschnittlichen Exportquote von mehr als 50 Prozent – wie der Automobilindustrie, dem Maschinenbau und der chemischen Industrie – wächst die Bedeutung dieser Dienste dynamischer als in eher binnenmarktorientierten Branchen wie der Nahrungs- und Genussmittelindustrie.

Durch die zunehmende Digitalisierung werden Routinetätigkeiten an Bedeutung verlieren und anspruchsvolle Tätigkeiten an Bedeutung gewinnen – auch in der Fertigung.

So weit, so gut. Wo bleiben aber die ordnungspolitischen Impulse, um uns von der Anachronismen der untergegangenen Industriewirtschaft zu befreien, wie es der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser in seinem Standardwerk „Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945“ ausdrückt. Wo sind klare Konzepte für einen institutionellen Rahmen zu erkennen, um uns auf die Bedürfnisse der nachindustriellen Ära auszurichten? Weder die wirtschaftlichen Eliten noch die öffentliche Meinung waren und sind sich der Realität bewusst, „dass schon Anfang der sechziger Jahre selbst bei stark rohstofforientierten Produzenten, wie der deutschen Großchemie, bis zu zwei Drittel der Wertschöpfung auf der Fähigkeit zur Anwendung von wissenschaftlich basierter Stoffumwandlungsprozesse beruhte“, schreibt Abelshauser in der erweiterten Auflage seines Opus. Seit den neunziger Jahren sind mehr als 75 Prozent der Erwerbstätigen und ein ebenso hoher Prozentsatz der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung durch immaterielle und nachindustrielle Produktion entstanden. Die innere Uhr der politischen Entscheider ist immer noch auf die industrielle Produktion gepolt. Man merkt es an der wenig ambitionierten Digitalen Agenda der Bundesregierung, man erkennt es an den lausigen Akzenten, die in der Bildungspolitik gesetzt werden und man hört es bei den Sonntagsreden der Politiker, wenn es um Firmenansiedlungen geht. Es gibt keine Konzeption für eine vernetzte Ökonomie jenseits der industriellen Massenfertigung aus den Zeiten des Fordismus.

Darüber würde ich gerne einige Fachgespräche via Hangout on Air führen. Wer Lust und Interesse verspürt, soll sich einfach bei mir melden. Hier in den Kommentaren oder per Mail an: gunnareriksohn@gmail.com

Man hört und sieht sich spätestens bei Bloggercamp.tv am Mittwoch, um 20: 15 nach er Tagesschau. Da geht es um Stadtgestaltung und die Zukunft des stationären Einzelhandels.

Siehe auch:

Cyber, Cyber! Die Hymne zur Digitalen Agenda.

DEUTSCHLAND VERLIERT DIE IT-EXPERTISE.

Mit Maschinen gegen die Krise? Über die Schrauben-Dübel-Logik von Herrn Steinmeier

Im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie (BMWi) hat das arbeitgebernahe (vielleicht auch industrienahe) Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln) in Zusammenarbeit mit der IW Consult GmbH heute eine Studie zur „Messung der industriellen Standortqualität in Deutschland“ vorgelegt. Danach konnte Deutschland seine Position im internationalen Standortwettbewerb deutlich verbessern und im Jahr 2010 den fünften Platz unter 45 untersuchten Industrie- und Schwellenländern erreichen.

Und da freut sich natürlich der Bundeswirtschaftsminister Philipp Rösler: Die Studie des zeige eindrucksvoll die Stärke der deutschen Industrie.

„Sie ist ein wesentlicher Garant für Erfolg und Wohlstand in Deutschland. Nicht zuletzt aufgrund unserer breiten und wettbewerbsfähigen industriellen Basis haben wir die globale Finanz- und Wirtschaftskrise gut bewältigt und können im internationalen Vergleich mit sehr positiven Wirtschaftsdaten aufwarten. Eine der vorrangigen Aufgaben unserer Wirtschaftspolitik muss es deshalb weiterhin sein, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der in Deutschland tätigen Industrieunternehmen durch klare, verlässliche und zukunftsfähige Rahmenbedingungen nachhaltig zu stärken.“

In den kommenden Jahren werde es vor allem darauf ankommen, die Energiewende so umzusetzen, dass die industrielle Wettbewerbsfähigkeit gestärkt und nicht geschwächt wird. Aha. Was heißt das denn konkret? Das Stromprivileg für die Industrie erhalten und weiterhin einseitig die privaten Haushalte belasten? Fröhliche Industriepolitik betreiben und andere Sektoren vernachlässigen? Rösler möchte höhere Lohnzusatzkosten vermeiden und die Industrie nicht mit immer neuen Auflagen überziehen. Klientelpolitik?

Wo der Industrielobbyismus dann hinführt, konnte man am Wochenende in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung lesen, die die IW-Studie schon vorab veröffentlicht haben. Der Rest der Journalistenzunft ist erst heute mit den Zahlen beglückt worden. Tenor des Berichts:

Maschinen machen Deutschland krisenfest: Deutschland erlebt eine Reindustrialisierung – und ist damit gut durch die Krise gekommen. Der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung konnte gehalten und zuletzt sogar gesteigert werden„.

Im Jahr 2011 lag der Industrieanteil bei rund 23 Prozent. Andere EU-Staaten hatten weniger: Italien zuletzt 16 Prozent, Spanien 13 Prozent, Frankreich und Großbritannien nur etwa 10 Prozent.

Die starke Industrie habe dazu geführt, dass Deutschland besonders gut durch die Krise gekommen ist. Davon seien die Studienverfasser vom IW überzeugt. Getragen worden sei die Erholung besonders vom Export.

„Zudem sind die Standortbedingungen für die Industrie hierzulande als gut bis sehr gut zu beurteilen“, sagte Karl Lichtblau vom IW Köln der FAS.

Das vor allem ist falsch, Herr Lichtblau. Siehe die Zahlen des Statistischen Bundesamtes!

SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier wird von der FAS mit folgenden Worten zitiert:

„Deutschland steht im Augenblick aus mehreren Gründen wie Alice im Wunderland da.“ Einer der Gründe sei, dass die Deutschen einen hohen Anteil von Industrieunternehmen gehalten hätten. Deutschland sei den Ratschlägen, eine Dienstleistungsgesellschaft zu werden, ausdrücklich nicht gefolgt, sagte Steinmeier. „Wir haben weiter, wie wir das gut können, Waschmaschinen, Schrauben, Dübel, Maschinen und Autos gebaut – mit großem Erfolg.“

Aber Herr Steinmeier, wir brauchen den Ratschlägen gar nicht zu folgen. Wir sind doch schon längst eine Dienstleistungsökonomie, auch wenn der industrielle Sektor eine große Bedeutung hat. Aber zu den Schrauben und Dübeln von Herrn Steinmeier komme ich gleich noch. Seine industriekapitalistische Euphorie liegt auf einer Welle mit dem zweiten Artikel der FAS, der noch ein Scheibe oder eine Mutter drauflegt:

Ein Lob auf die deutsche Industrie – Was heißt hier Dienstleistungsgesellschaft? Deutschlands Stärke ist und bleibt die Industrie. Plötzlich wollen auch alle anderen werden wie die Deutschen. Denn das Land zeigt sich stark in der Krise„.

Dass Fabriken auf einmal wieder in Mode kommen, habe viel mit der Finanzkrise zu tun. Gertrud Traud, Chefvolkswirtin bei der Helaba in Frankfurt, erklärt das der FAS so:

„Industrie macht Krach und stinkt. Wir dachten bis 2008, wir hätten mit der Finanzbranche etwas gefunden, das weder stinkt noch kracht und trotzdem Wachstum bringt.“ Doch dann kam die Finanzkrise. „Und wir stellten fest, dass man auch in Banktürmen mit Papier giftiges Zeug schaffen kann.“ Hinzu komme, dass 2008 nicht nur die Finanzblase geplatzt ist, sondern auch die Immobilienblase. Damit war auch der Boom der Bauwirtschaft in so unterschiedlichen Ländern wie Amerika, Irland und Spanien beendet. „Das war bitter“, sagt Traud. „Und auf einmal stellte man fest, dass es da ja noch einen anderen Bereich der Realwirtschaft gibt: die Industrie.“

Entsprechend fällt das Urteil der FAS aus:

Dank Industrie erholte sich Deutschland schnell vom Lehman-Schock – überraschend schnell -, und seither läuft’s.

Nun möchte ich ja gar nicht die Relevanz der Industrie schmälern. Aber die Absolutheit und Monokausalität von BMWi, IW und FAS gehen doch an dem Kern der Sache vorbei. Ein Blick auf die harten Fakten des Statistischen Bundesamtes kann da nicht schaden. Für 2012 liegen die Zahlen natürlich noch nicht vor. Aber schauen wir uns das vergangene Jahr etwas genauer an:

„Die Wachstumsimpulse kamen 2011 vor allem aus dem Inland. Insbesondere die privaten Konsumausgaben erwiesen sich als Stütze der wirtschaftlichen Entwicklung: Sie legten preisbereinigt mit + 1,5 Prozent so stark zu wie zuletzt vor fünf Jahren“, verkündete das Statistische Bundesamt auf einer Pressekonferenz am 11. Januar 2012, auf der ich auch zugegen war.

Aufwärts ging es auch im industriellen Sektor, keine Frage: „Es wurde deutlich mehr in Ausrüstungen (preisbereinigt + 8,3 Prozent) – darunter fallen hauptsächlich Maschinen und Geräte sowie Fahrzeuge – und Bauten (preisbereinigt + 5,4 Prozent) investiert als ein Jahr zuvor.“

Der Außenhandel hatte einen geringeren Anteil am BIP-Wachstum als die Binnennachfrage.

Deutschland exportierte preisbereinigt 8,2 Prozent mehr Waren und Dienstleistungen als ein Jahr zuvor. Gleichzeitig stiegen die Importe etwas weniger stark (+ 7,2 Prozent). Die Differenz zwischen Exporten und Importen – der Außenbeitrag – steuerte 0,8 Prozentpunkte zum BIP-Wachstum bei.

Seit Ewigkeiten ist es amtlich und wird auch von den Zahlen des Statistischen Bundesamtes bestätigt: Deutschland ist eine Service-Ökonomie. 69 Prozent der nominalen gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung kommt aus dem Dienstleistungssektor. „Ja aber“, blöken in schöner Regelmäßigkeit die liebwertesten Gichtlinge des Industrielobbyismus. Was ist mit der Autoindustrie, mit dem Maschinenbau und dem verarbeitenden Gewerbe? „Auch Apple wäre nichts ohne Produkte.“ Richtig.

Es ist idiotisch, dass als Gegenargument ins Feld zu führen. Schaut auf die Arbeitsplätze in der industriellen Fertigung und ich sage euch, dass wir keine Industrienation mehr sind. Forschung, Entwicklung, Veredelung, Montage, Vertrieb, After Sales, Logistik und vieles mehr sind Dienstleistungen, die rund um die ins Ausland verlagerte Massenproduktion noch im eigenen Land stattfinden

Das ist auch bei Apple so und wird sich wohl nicht mehr ändern. Deshalb sollten sich die monokausal denkenden Meinungsführer in Politik und Wirtschaft endlich vom Paradigma des „Made“ in Germany verabschieden. Korrekt wäre „Design“ in Germany, wie es das „Smart Service Manifest“ zum Ausdruck gebracht hat:

„Seit 2003 geben die Deutschen zum ersten Mal mehr Geld für Dienstleistungen als für Produkte aus. Wir verabschieden uns damit vom Produkt-Paradigma und schwenken ein in eine Epoche, in der die ‚Produktion‘ immaterieller Güter und Dienstleistungen die Märkte antreibt. Konjunkturförderprogramme und das Wachstums-Beschleunigungsgesetz aber sind (oder waren, gs) einseitig auf den Bausektor und die industrielle Technologiefertigung ausgerichtet.“

Herr Steinmeier von der SPD kann ja mal am Beispiel einer „deutschen“ Waschmaschine überprüfen, wie es um die Fertigungstiefe in unserem Lande bestellt ist, wie hoch der Anteil der Produktion im Ausland ausfällt und in welchen Ländern seine Schrauben und Dübel so alles eingebaut werden mit dem Prädikatssiegel „Made in Germany“. Ich könnte ihm dann alleine in Osteuropa und China die Standorte nennen, wo ein großer Teil des Innenlebens seiner so inbrünstig geliebten deutschen Produkte zu großen Teilen hergestellt werden. Wie wäre es mal mit einer Exkursion nach Bosnien, Herr Steinmeier?

Wer von der Krisenresistenz der Industrie redet, sollte von den Konjunkturpaketen und Abwrackprämien nicht schweigen. Wie viel ist von diesen Finanzspitzen nach der Lehman-Krise eigentlich in den Dienstleistungssektor geflossen? Wenig. Fast alles schnappte sich die Industrielobby. Und hier sind sich Arbeitgeber und Gewerkschaften ausnahmsweise mal einig, die auch jetzt wieder staatliche Unterstützung wegen der schwächelnden Auftragslage begehren. Die Spitzen der Tarifparteien beschränken sich diesmal auf die Krisenregelung für Kurzarbeit, die nach dem Lehman-Kollaps eingeführt wurde.

Vielleicht sollten wir endlich mal kapieren, dass es keinen Sinn macht, Industrie gegen Dienstleistungen auszuspielen oder auf Immobilienblasen und die Spekulatius-Casino-Kapitalisten-Zockerboys zu reduzieren.

Zukunftsfähig werden beide Sektoren nur in einer vernetzten Ökonomie sein. Da hätte die Industrie auch noch einiges zu tun, etwa beim Aufbau einer leistungsfähigen Infrastruktur für die Entfaltung der Digitalisierung in Deutschland. So steigt in Europa die Zahl der Glasfaseranschlüsse für schnelles Internet exorbitant an – nur nicht bei uns.

„Im Ranking der EU27+9-Länder liegen Litauen mit einer Anschlussquote von 30 Prozent der Haushalte, Norwegen (18 Prozent) und Schweden (14,5 Prozent) an der Spitze. Insgesamt 22 Länder bringen es auf eine FTTH/B-Anschlussquote von mehr als einem Prozent. Deutschland und England gehören nicht dazu, erstmals jetzt aber Luxemburg (1,5 Prozent) und Spanien (1,4 Prozent)“, schreibt heise.de.

Ein Trauerspiel, das auch irgendwann zu volkswirtschaftlichen Verwerfungen führen kann. Siehe dazu auch: VATM-Studie: Zur Lage der TK-Dinosaurier – Warum Apple und Google besser sind.

Das Thema möchte ich in einem Beitrag am Freitag vertiefen. Statements, Studienhinweise, kritische Kommentare zu meiner Einschätzung bitte bis Donnerstagabend hier als Kommentar posten, in eigenen Blogpostings aufgreifen oder mir per Mail schicken: gunnareriksohn@gmail.com. Telefoninterviews oder Live-Hangouts sind natürlich auch machbar.

Das Ganze könnte natürlich auch noch eine Rolle bei der zweiten Session des virtuellen Blogger Camps am Mittwoch um 19,30 Uhr spielen: Von der zerstörerischen Kraft der digitalen Dauerdisruption.