WeDeppen und die Demut des Dilettanten

„WeTab-Chef Helmut Hoffer von Ankershoffen hat zugegeben: Er hat unter falschen Namen euphorische Besprechungen seines Tablet-PCs auf Amazon geschrieben. Nun zieht er sich als Geschäftsführer zurück – und lobt den Apparat gleich noch mal“, schreibt Spiegel Online. Den Stein hat der Blogger Richard Gutjahr ins Rollen gebracht. So kann es enden, wenn einem Kleinstunternehmer die Demut fehlt und er sich als deutschen Steve Jobs inszenieren will. Ich hatte das schon in der vergangenen Woche thematisiert.

Was aber passiert jetzt mit Helmut Hoffer von Ankershoffen. Soll er zur Beichte oder ins Kloster gehen, eine Woche lang heulen oder unter Pseudonym eine neue Manager-Karriere anstreben? Er könnte natürlich auch ein Buch über Demut-Marketing schreiben. Untertitel: Mein Weg zurück zur Nichtigkeit. Oder ein Opus des von mir sehr geschätzten Kadmos-Verlages lesen: „Dilettantismus als Beruf“, herausgegeben von Safia Azzouni und Uwe Wirth. In ihrer Einleitung schreiben die beiden: „Das Wort ‚Dilettantismus, schreibt Jacob Burckhardt in seinen ‚Weltgeschichtlichen Betrachtungen‘, ist ‚von den Künsten her im Verruf‘, wo man, ‚entweder nichts oder ein Meister sein und das Leben an die Sache wenden muss, weil die Künste wesentlich die Vollkommenheit voraussetzen‘. In den Wissenschaften (und bei der Entwicklung von Tablet-PCs, gs) könne man dagegen ’nur noch in einem begrenzten Bereiche Meister sein, nämlich als Spezialist, und irgendwo soll man dies sein‘ (vielleicht in der Disziplin „Demut-Marketing“, gs).“ Wer hier nicht die Übersicht verlieren will, sollte an möglichst vielen Stellen Dilettant sein, wenigstens auf eigene Rechnung. Goethe und Schiller schreiben in ihrem Fragment „Über den Dilletantismus“: Der Dilettant scheue „das Gründliche“, denn „er überspringt die Erlernung nothwendiger Kenntnisse, um zur Ausübung zu gelangen“ (beispielsweise bei der Präsentation eines iPad-Konkurrenzgerätes, gs).

Mit geschickter Reklame könne man die Öffentlichkeit mobil machen und sich als professioneller Dilettant gegen die Herrschaft der Experten in Szene setzen – man sollte dabei aber auf dümmliche Rezensionen verzichten und sich nicht als schlechte Kopie des Computerjournalisten Peter Glaser ausgeben. Als ironischer Dilettant könnte man die Scheinrationalität von Forschern und Fachleute bloß stellen, wie es Robert Musil in seinem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ getan hat. Andreas Gailus geht in seinem Beitrag darauf ein: „Dumme Kommunikation ist der punktuellen Semantik wissenschaftlicher Kommunikation diametral entgegengesetzt; sie ersetzt ‚ein gezieltes Handeln durch ein Voluminöses (das hat der WeTab-Chef aber perfekt umgesetzt, eventuell kennt er diesen Sammelband schon, gs), Intension durch Extension: ‚denn je undeutlicher ein Wort ist, umso größer ist der Umfang dessen, worauf es bezogen werden kann‘. Wo nichts Genaues gesagt wird, ist jeder jederzeit in der Lage, dem Gesagten etwas hinzuzufügen“, so Gailus. (Die Zitate entstammen dem Essay von Robert Musil „Über die Dummheit“).

Der technologische Dilettant und Steve Jobs-Imitator könnte einfach auf Zeit spielen. „Erfinder wird man nicht durch Mitgliedschaft oder gar geduldige Diplome, sondern allein durch den Erfolg oder durch das Urteil der Geschichte“, so Franz Maria Feldhaus – zitiert von Markus Krajewski. Aus diesem Kapitel könnten alle WeDeppen dieser Welt Hoffnung schöpfen: „Im Scheitern ruht die Saat des künftigen Fortschritts. So wie in jedem misslungenen Plan ein epistemologischer Überschuss steckt, das Residuum einer unzerstörten Möglichkeit des Gelingens, eine zu ziehende Lehre, mit deren Hilfe ein nächster Versuch unter günstigeren Bedingungen starten kann – zumal bei Projekten, die auf Wiederholbarkeit angelegt sind…“, führt Krajewski aus. Man könnte von vornherein Blogger wie Richard Gutjahr als Testpersonen für technologische Prototypen heranziehen und vor der öffentlichen Präsentation des Produktes an der Demut arbeiten.

Siehe auch:
Ovid, Steve Jobs und die Klugheitslehre: Wie man mit Luftstreichen und Gerüchten die Konkurrenz verblüfft.

Zur Frage der Demut sollte man sich auch das Ankershoffen-Interview von 2008 durchlesen: „Wir kratzen an der Marktdominanz von Google“.

General Stumm, Schirrmacher und der Mann ohne Eigenschaften: Über das Problem der Kultur und Unendlichkeit

Debattendompteur Frank Schirrmacher fürchtet sich vor den geheimnisvollen Algorithmen des Netzes: „Wir werden das selbstständige Denken verlernen und wir werden uns in fast allen Bereichen der autoritären Herrschaft der Maschinen unterwerfen.“ Der Grund ist die schiere Menge der im Netz verfügbaren Daten, die unsere Aufmerksamkeitsressourcen heillos überfordern – weswegen wir uns auf die Softwareagenten und digitalen Roboter der Ordnungsprogramme des Internets verlassen müssen. Damit aber erleben wir eine Externalisierung des Denkens, dass sich fortan außerhalb unseres Gehirns als algorithmengesteuerter Prozess in der Cloud abspielt. Diese Thesen leiert der FAZ-Herausgeber in seiner Reden-Tournee durch Deutschland als semantische Endlosschleife herunter. Al-Khwarizmi hätte wohl nie gedacht, dass seine algebraischen Denkanstöße zu so weitreichenden Folgen führen könnten. Meint Schirrmacher eigentlich Algorithmen mit polynomialer oder mit exponentieller Laufzeit? Kann der Feuilletonist eine Lösung für das Boole’sche Erfüllbarkeitsproblem präsentieren?

Höre ich mit dem Denken auf, wenn meine schlauen kleinen elektronischen Assistenten mir jeden Tag Informationen über Themen abliefern, die ich über smarte Softwareprogramme abrufe? Schrumpft mein Hirn, wenn mir Amazon automatisch Buchempfehlungen zuschickt, die sich an meinen bisherigen Suchanfragen und Online-Einkäufen orientieren? Auch meine sehr freundliche Kioskverkäuferin kennt meine bevorzugte Zigarettenmarke und weiß, welche Zeitungen und Zeitschriften ich ab und zu kaufe, damit die Printindustrie nicht völlig zusammenbricht. Die Personalisierung im guten, alten Tante Emma-Laden empfinden die meisten Menschen als sympathisch. In meinem Lieblingskiosk bin ich namentlich bekannt, werde freundlich begrüßt und vieles läuft automatisch ab.

Sind es Empfehlungen, hinter denen Algorithmen stecken, wird das Ganze zur monströsen Datenkrake. Das mag in Ansätzen stimmen und es gibt wohl jeden Tag üble Verstöße gegen den Datenschutz. Von staatlichen und privaten Institutionen. Unser Gehirn verändert sich dadurch nicht. Mein freigeistiges Köpfchen erreichen die Algorithmen auch nicht. Denken, reflektieren, lesen, schreiben und disputieren muss ich immer noch selber. Das können meine elektronischen Assistenten nicht – dafür sind die viel zu blöd. Sie können die Komplexität der Datenflut, die es nicht erst seit der Erfindung des Internets gibt, reduzieren und für mich etwas erträglicher machen. Bewältigen kann man die weltweit kursierenden Informationen nie.

Ein wenig erinnert mich Schirrmacher mit seinen Komplexitätsklagen an die Hampelmänner in dem Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil. Und hier besonders an General Stumm, der auf der Suche nach dem erlösenden Gedanken ist: „‚Du erinnerst Dich‘, sagte er, ‚dass ich mir in den Kopf gesetzt habe, den erlösenden Gedanken, den Diotima sucht, ihr zu Füßen zu legen. Es gibt, wie sich zeigt, sehr viele bedeutende Gedanken, aber einer muss schließlich der bedeutendste sein; das ist doch nur logisch? Es handelt sich also bloß darum, Ordnung in sie zu bringen.'“

Wenig vertraut mit Gedanken und ihrer Handhabung, noch weniger mit der Technik, neue zu entwickeln, beschließt General Stumm, sich in die Hofbibliothek zu begeben, ein grundsätzlich idealer Ort, um sich mit ungewöhnlichen Gedanken auszustatten, wo er sich „über die Stärke des Gegners Klarheit zu verschaffen“ und auf eine möglichst organisierte Weise zu der originellen Idee zu gelangen hofft, nach der er sucht. Der Besuch in der Bibliothek versetzt den General allerdings in große Angst (lieber Herr Schirrmacher), da er mit einem Wissen konfrontiert wird, das ihm keinerlei Orientierung bietet und über das er nicht die vollständige Befehlsgewalt hat, die er als Militär oder Zeitungsherausgeber gewohnt ist:

„Wir sind den kolossalen Bücherschatz abgeschritten, und ich kann sagen, es hat mich weiter nicht erschüttert, diese Bücherreihen sind nicht schlimmer als eine Garnisonsparade. Nur habe ich nach einer Weile anfangen müssen, im Kopf zu rechnen, und das hatte ein unerwartetes Ergebnis. Siehst du, ich hatte mir vorher gedacht, wenn ich jeden Tag da ein Buch lese, so müsste das zwar sehr anstrengend sein, aber irgendwann müsste ich damit zu Ende kommen und dürfte dann eine gewisse Position im Geistesleben beanspruchen, selbst wenn ich das ein oder das andere auslasse. Aber was glaubst du, antwortet mir der Bibliothekar, wie unser Spaziergang kein Ende nimmt und ich ihn frage, wieviel Bände denn eigentlich diese verrückte Bibliothek enthält? Dreieinhalb Millionen Bände, antwortet er! Wir sind da, wie er das sagte, ungefähr beim siebenhunderttausendsten Buch gewesen, aber ich habe von dem Augenblick an ununterbrochen gerechnet (Google oder Wolfram Alpha könnten das in einer Nanosekunde ausspucken); ich will es dir ersparen, ich habe es im Ministerium noch einmal mit Bleistift und Papier nachgerechnet: Zehntausend Jahre würde ich auf diese Weise gebraucht haben, um mich mit meinem Vorsatz durchzusetzen!“

Die Unendlichkeit der Lektüremöglichkeit ist also kein Problem der Internetzeit. Jeder Leser ist eben auch ein Nicht-Leser. Es ist das alte Problem von Kultur und Unendlichkeit, die auch mit Boole’scher Mathematik nicht in den Griff zu kriegen ist. Das wäre auch anmaßend.

Gegen die mathematischen Angstzustände empfehle ich Schirrmacher den Zahlenteufel von Enzensberger. Siehe Buchcover.

Siehe auch:
Netznavigator: Herder statt Schirrmacher.